Schweizerische Gesellschaft der Vertrauens- und Versicherungsärzte

34 Onkologie

Update 3. Auflage, Juni 10

Einleitung

Häufigste Fragestellung für den Vertrauensarzt im Bereich der Onkologie ist der "off-label use1" von Medikamenten - mit zunehmender Tendenz:

Anfragen betr. off-label use an den zentralen Vertrauensärztlichen Dienst der Helsana2
Jahr Anzahl Anfragen
2004 230
2005 259
2006 335
2007 444
2008 561

Zum Verständnis dieser Situation muss kurz auf den Prozess und die Problematik der Registrierung neuer Medikamente eingegangen werden: Die Registrierung (Zulassung) von neuen Medikamenten in der Schweiz erfolgt zwar - im Vergleich mit der EU (EMEA, European Medicines Agency) oder UK (NICE, National Institute for Health and Clinical Excellence) - oft relativ schnell, meist schon auf Grund einer einzigen publizierten Studie, die die Wirksamkeit des neuen Medikamentes nachweist. In der Regel werden die Bedingungen dieser "Zulassungsstudie" von Swissmedic für die Registrierung und vom BAG für die Aufnahme in die SL übernommen.

Beispiel: Zulassung von Erbitux®

Eine registrierte Indikation lautete: "In Kombination mit Irinotecan zur Behandlung von Patienten mit EGFR (epidermal growth factor receptor)-exprimierendem metastasiertem Kolorektalkarzinom, wenn eine zytotoxische Therapie unter Einschluss von Irinotecan versagt hat." Es wurde also die Vortherapie (unter Einschluss von Irinotecan), das gleichzeitig mit Erbitux zu verabreichende Zytostatikum (Irinotecan) und eine biologische Eigenschaft des Tumors (EGFR-Expression) als Bedingung für die Verabreichung von Erbitux festgelegt. Diese Bedingungen entsprachen exakt den Einschlusskriterien der "Zulassungsstudie"3. Die Registrierung erfolgte am 1.12.2003 im beschleunigten Zulassungsverfahren (BZV) - noch vor Publikation der Studie. Die EMEA registrierte Erbitux erst ein halbes Jahr später (29.6.2004).

Die klinische Forschung in der Onkologie zeigt häufig schon bald nach der Registrierung neue Indikationen auf, stellt bestehende Einschränkungen in Frage oder lässt neue Einschränkungen als sinnvoll erscheinen.

Beispiel: Erbitux® bei Kolorektalkarzinom

Seit Publikation der erwähnten Zulassungsstudie wurde gezeigt, dass das Medikament auch in Kombination mit anderen Substanzen als Irinotecan wirkt 4 und dass die EGFR-Expression des Tumors keine Voraussetzung für die Wirksamkeit ist5. Umgekehrt zeigte sich, dass Erbitux bei Vorliegen einer Mutation des k-ras-Gens in den Tumorzellen unwirksam ist6.

Die Limitatio der SL wurde nun per 1.12.2009 entsprechend abgeändert und lautet jetzt "In Kombination mit Irinotecan zur Behandlung von Patienten mit metastasiertem Kolorektalkarzinom mit nicht-mutiertem Wildtyp-K-Ras-Gen, wenn eine zytotoxische Therapie unter Einschluss von Irinotecan versagt hat". Das heisst, die Bedingung der EGFR-Expression wurde fallengelassen und dafür das Fehlen einer Mutation neu als sinnvolle Einschränkung aufgenommen.

Die von Swissmedic festgelegte Indikation für das Kolorektalkarzinom lautet aber unverändert: "In Kombination mit Irinotecan zur Behandlung von Patienten mit EGFR - exprimierendem metastasiertem Kolorektalkarzinom, wenn eine zytotoxische Therapie unter Einschluss von Irinotecan versagt hat." Swissmedic hat wohl zwei weitere Indikationen (ORL-Karzinom in Kombination mit Radio- oder Chemotherapie) bewilligt, letztmals im Oktober 2009; die neuen Erkenntnisse bezüglich Unwirksamkeit bei mutiertem k-Ras-Gen wurden aber nicht berücksichtigt. Die Situation ist verwirrend: Swissmedic verlangt "EGFR-Expression", das BAG "Wildtyp-K-Ras-Gen" - zwei völlig unterschiedliche tumorbiologische Eigenschaften.

Eine einmal festgelegte Indikation wird oft weder erweitert noch korrigiert: das Antragsrecht für Änderungen der Zulassung liegt einzig beim "Zulassungsinhaber" (d. h. Hersteller oder Importeur). Dieser ist an offiziellen Indikationserweiterungen wenig interessiert: Das Prozedere ist aufwendig und bei einer Ausweitung der Indikation kann vom BAG der Preis neu festgelegt, d.h. auch gesenkt werden.

Beispiel: Carboplatin bei Nicht-kleinzelligem Bronchuskarzinom.

Carboplatin (Paraplatin®, Carboplatin®) ist lediglich für das kleinzellige, nicht aber für das (wesentlich häufigere) nicht-kleinzellige Bronchus-Karzinom zugelassen. Beim metastasierenden nicht-kleinzelligen Bronchuskarzinom gilt heute Carboplatin als Standardbehandlung7, 8 mit gleicher Wirksamkeit, aber deutlich besserer Verträglichkeit als das für diese Indikation registrierte Cisplatin (Platinol®, Platiblastin®, Cisplatin®). Da für Carboplatin der Patentschutz ausgelaufen ist, besteht für die Industrie kein Interesse an einer Ausweitung der Indikation.

Das heisst: Indikationen und Limitationen entsprechen den Bedingungen der Zulassungs-Studie, jedoch oft nicht (mehr) dem aktuellen Stand der Wissenschaft. Dies führt dazu, dass Onkologen, wenn sie ihre Patienten entsprechend dem aktuellen Stand der Wissenschaft behandeln wollen, häufig auf den off-label use angewiesen sind. Diese Ansicht wird von einer gemeinsamen Arbeitgruppe von SGV und SGMO (Schweizerische Gesellschaft für Medizinische Onkologie) geteilt:

"Es ist ein Grundverständnis der gemischten Arbeitsgruppe off-label-use, dass es Krankheitsbilder gibt, bei denen ein die Zulassungsgrenzen überschreitender Einsatz eines Medikamentes aufgrund des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse und unter Berücksichtigung des therapeutischen Fortschrittes medizinisch notwendig und therapeutisch zweckmässig sein kann. Ziel ist es, den Patienten die entsprechende Therapie nicht vorzuenthalten."9

Off-label use in der Onkologie ist kein spezifisches Problem der Schweiz: Sehr ähnliche Fragen werden auch in der EU und den USA diskutiert. Die ESMO (European Society of Medical Oncology) vertritt die Ansicht, das Antragsrecht für die Erweiterung von Indikationen dürfe nicht allein Sache der Pharma-Firmen sein, sondern müsse auf medizinische Fachgesellschaften und andere interessierte Organisationen ausgeweitet werden10

Definitionen onkologischer Begriffe

Die Onkologie - wie jede medizinische Spezialität - hat teilweise ihre eigene Sprachregelung resp. Terminologie. Dies führt im Schriftwechsel und Gespräch zwischen behandelndem Onkologen und Vertrauensarzt immer wieder zu Missverständnissen. Deshalb hier einige Definitionen / Erklärungen:

Therapieziele

Adjuvante Therapie:

Eine nach einem - in kurativer Absicht geplanten - chirurgischen Eingriff zusätzlich durchgeführte Tumorbehandlung (medikamentös u/o Strahlentherapie). Ihr Ziel ist, nach dem chirurgischen Eingriff eventuell noch vorhandene (aber nicht nachweisbare) mikroskopische Tumorherde zu vernichten. Dadurch sollen Lokalrezidive und Fernmetastasen verhindert und damit die Heilungschancen verbessert werden. Es liegt in der Natur der Sache, dass die positive Wirkung einer adjuvanten Therapie nur statistisch an einem Kollektiv nachzuweisen ist: Bei einem Individuum kann auch retrospektiv nie festgestellt werden, ob die Heilung nicht bereits durch den chirurgischen Eingriff erfolgte (und somit die adjuvante Therapie gar nicht nötig war).

Neoadjuvante Therapie:

Eine vor einem - in kurativer Absicht geplanten - chirurgischen Eingriff durchgeführte Tumorbehandlung (medikamentös u/o Strahlentherapie). Es werden damit zwei Ziele verfolgt: einmal soll die Vorbehandlung zu einer Verkleinerung des Tumors führen und so eine sonst unmögliche organerhaltende Operation erlauben (z.B. brusterhaltende Operation bei einem grossen Mammakarzinom oder kontinenzerhaltende Operation eines grossen Rektumkarzinoms). Ferner sollen - wie bei der adjuvanten Therapie - Mikrometastasen eradiziert und damit Lokalrezidive und Fernmetastasen verhindert und die Heilungschancen verbessert werden. Bei der neo-adjuvanten Therapie ist die Wirkung zumindest auf den Primärtumor klinisch nachweisbar.

Palliative Therapie:

Eine Bezeichnung, die oft zu Missverständnissen führt: In der Onkologie wird als palliative Therapie (korrekter: Therapie in palliativer Absicht) eine Behandlung bezeichnet, die in inkurabler Situation eine (vorübergehende) Verkleinerung (mindestens eine Stabilisierung) des Tumors anstrebt. Dadurch sollen tumorbedingte Symptome gelindert resp. die Lebensqualität verbessert und (eventuell) die Überlebenszeit verlängert werden. Bei den meisten medikamentösen Tumortherapien kann innert 8-12 Wochen abgeschätzt werden, ob das Ziel der Tumorverkleinerung erreicht wurde. In der Onkologie wird somit der Begriff palliativ anders definiert als in der Palliativmedizin: Diese behandelt primär und direkt die Symptome (z.B. Schmerz, Dyspnoe), während bei einer sogenannten palliativen onkologischen Therapie die Behandlung primär auf den Tumor gerichtet ist mit dem Ziel, dadurch die Symptome indirekt zu lindern.

Beurteilung des Therapieerfolgs

Der Behandlungserfolg bei Radiotherapie und medikamentöser Tumortherapie wird nach Definitionen und Kriterien beurteilt, die von internationalen Organisationen erarbeitet wurden. Bei soliden Tumoren werden meist die RECIST-Kriterien11 (Response Evaluation Criteria In Solid Tumors) angewandt.

  • Komplette Remission (CR): Tritt nach einer Bestrahlung oder einer medikamentösen Tumortherapie eine vollständige Rückbildung aller Tumorherde auf, wird von einer kompletten Remission gesprochen. Eine komplette Remission ist Voraussetzung für eine eventuelle Heilung, d. h. erstes Ziel jeder kurativen Behandlung.
  • Partielle Remission (PR): Unter einer Teilremission oder partiellen Remission versteht man eine objektivierbare, messbare12, aber unvollständige Rückbildung der Tumorherde.
  • Stabilisierung der Erkrankung (»no change«, NC oder »stable disease«, SD): Von einer Stabilisierung wird gesprochen, falls durch die Behandlung das Tumorwachstum während mindestens sechs Wochen gestoppt, aber keine Teil- Remission erreicht werden kann.
  • Progredienz (»progressive disease«, PD): Unter Progredienz versteht man eine Grössenzunahme13 des Tumors oder das Auftreten neuer Herde unter Therapie. Von Progredienz spricht man auch, falls der Tumor nach einer vorübergehenden Remission erneut größer wird.
  • Gesamtüberleben und Progredienz-freies Überleben ("Overall survival", OAS und "Progression-free survival", PFS): Vor allem bei Studien mit sog. "gezielten Therapien" (z.B. monoklonale Antikörper, Tyrosinkinase-Hemmer) wird an Stelle der Remissionsrate neben dem Gesamtüberleben oft das PFS als Mass für die Wirksamkeit angegeben. Es wird gemessen vom Zeitpunkt des Therapiebeginns bis zum Zeitpunkt der Progredienz.

Onkologische Aspekte von Begriffen der Versicherungsmedizin

Orphan indication

Der Begriff "orphan indication" ist von grosser Bedeutung14:

  • Bei limitierten Medikamenten ist eine Vergütung bei Anwendung ausserhalb der Limitatio möglich, falls die Indikation nicht bei Swissmedic registriert ist und es sich um eine orphan indication handelt.
  • Bei nicht-limitierten Medikamenten erlaubt eine orphan indication die Vergütung, falls bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind (z.B. Nachweis der Wirksamkeit), während der off-label use im engeren Sinn nur in Ausnahmefällen vergütet wird.

Probleme der Definition

Die Spezialitätenliste SL (wie auch die EMEA) definiert orphan indication als "Krankheit, die… nicht mehr als 5 von 10'000 Personen betrifft"15. Der orphan status wird also nicht durch die Inzidenz (Anzahl jährliche Neuerkrankungen) definiert, sondern durch die Prävalenz (Anzahl Menschen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt mit der Krankheit leben). Im Gegensatz zur Inzidenz ist die Prävalenz unscharf definiert: Ist die "point prevalence" gemeint (Prävalenz zu einem bestimmten Zeitpunkt) oder die "period prevalence" (Prävalenz währen einer bestimmten Zeitdauer)? Wenn period prevalence: Während welcher Periode: 1 Jahr? 5 Jahre? Je kürzer die gewählte Periode, desto niedriger ist naturgemäss die Prävalenz. Daten aus der Schweiz16 finden sich sowohl für die 1- wie die 5-Jahresprävalenz maligner Tumoren. Was gilt? Die Frage ist keineswegs akademisch: Je nach gewählter Periode ist das Lungenkarzinom des Mannes eine orphan indication oder auch nicht.

In der erwähnten Schweizer Datenbank12 finden sich Prävalenzdaten lediglich für 29 "cancer sites", z. B. "lung" oder "non-Hodgkin Lymphoma". Sowohl in der Lunge wie unter den Non-Hodgkin -Lymphomen finden sich klinisch und histologisch völlig verschiedene Tumorentitäten, die sich für den Onkologen in Therapie und Prognose stark unterscheiden - in der Lunge bspw. das kleinzellige und das nicht-kleinzellige Bronchuskarzinom. Betrachtet man diese als zwei getrennte Entitäten so sind beide - unabhängig von der für die Bestimmung der Prävalenz gewählten Zeitdauer - orphan indications.

Ausgehend von den Daten für die 1-Jahres-Prävalenz sind alle malignen Tumoren "orphan indications" mit Prävalenzen < 0.05%, d.h. von weniger als 5/10'000 Menschen - mit folgenden Ausnahmen:

  • Prostata-Ca. (0.137%)
  • Mamma-Ca. (0.133%)
  • Colon/Rectum-Ca. beim Mann (0.063 %).

Sowohl beim Mamma- wie beim Colon/Rectumca. könnte jedoch ebenfalls die Frage gestellt werden, ob es sich dabei um Tumorentitäten handelt: Das Hormonrezeptor-positive Mammakarzinom ist für den Onkologen eine andere Krankheit als das Hormonrezeptor-negative Karzinom; das Rektumkarzinom eine andere Krankheit als das Kolonkarzinom. Fragen, die abschliessend wohl nur durch das EVG beantwortet werden können.

Swissmedic kann – auf Antrag des Herstellers oder des Importeurs – Medikamenten nach einem vereinfachten Verfahren den "orphan drug status" verleihen. Dieser "orphan drug status" kann auch Medikamenten verliehen werden, die für andere Anwendungen bereits regulär zugelassen sind. Das entsprechende "Verzeichnis der zugelassenen Humanarzneimittel mit Status Orphan Drug" kann im Internet als Excel-Tabelle abgerufen werden17, es finden sich dort zahlreiche onkologische Indikationen. Die Liste ist nicht als abschliessend zu betrachten.

Wirksamkeit

Eine Definition der Wirksamkeit resp. des erwarteten klinischen Nutzens wird in den Gesetzes- und Verordnungstexten vergebens gesucht18. Die Anforderungen scheinen indes - zumindest für neue onkologische Substanzen - nicht allzu hoch. Dies ist in Anbetracht der mit diesen Therapien verbundenen Kosten erstaunlich.

Beispiel: Sorafenib (Nexavar®) ist zugelassen für die Behandlung von Patienten mit fortgeschrittenem Nierenzellkarzinom nach Nephrektomie und palliativer oder adjuvanter Vortherapie mit Cytokinen. Die Zulassung erfolgte auf Grund einer Studie19 mit folgenden Resultaten für die Behandlung dieser Patienten:

Nexavar® Placebo
Komplette Remission (CR) < 1% 0%
Partielle Remission (PR) 10% 2%
Stable Disease (SD) 74% 53%
Progression-free survival (PFS) (Median) 5.5 Monate 2.8 Monate
Gesamtüberleben (OAS) (Median) 19.3 Monate 15.9 Monate

Daraus kann gefolgert werden, dass der VA bei Gesuchen um Kostenübernahme bei off-label use keine strengeren Kriterien an die Wirksamkeit (und die Wirtschaftlichkeit) anwenden sollte als Swissmedic und BAG bei der Zulassung von Sorafenib.

Die objektive Remissionsrate (CR und PR) von Zytostatika liegt bei den meisten soliden Tumoren in der Grössenordnung von (nur) 20 - 40%. Das heisst, dass jede medikamentöse Tumorbehandlung (auch eine sog. Standardtherapie) primär einen Therapieversuch darstellt: erst nach einer Therapiedauer von ca. 6-12 Wochen lässt sich die Wirksamkeit (der therapeutische Nutzen) einer bestimmten Therapie beim individuellen Patienten beurteilen. Auf Grund dieser Beurteilung wird über Fortsetzung oder Abbruch der Behandlung entschieden. Es kann deshalb sinnvoll sein, die Kostenübernahme für einen off-label use zeitlich befristet zu bewilligen mit der Auflage, den Therapierfolg vor Ende dieser Frist zu dokumentieren.

Die statistischen Werte für mediane Überlebenszeit und Remissionswahrscheinlichkeit sagen naturgemäss nichts über den Therapieerfolg des individuellen Patienten aus. Auch bei statistisch wenig eindrücklichen Zahlen kann der individuelle Patient sehr wohl deutlich von einer Therapie profitieren, vor allem wenn es gelingt, eine gute Remission zu erreichen. Diese Aussicht ist für den behandelnden Onkologen in der Regel das Motiv für den Einsatz einer off label Therapie.

Wissenschaftlicher Nachweis der Wirksamkeit

Welchen Anforderungen muss der "wissenschaftliche Nachweis" der Wirksamkeit im off label use genügen? Nur selten liegen die von der KVV geforderten "klinisch kontrollierten Studien" vor, zur Durchführung solcher Studien genügen die Patientenzahlen bei den meisten Indikationen des off label use nicht. Die bereits zitierte gemeinsame Arbeitsgruppe von SGV und SGMO stellte für ihre Arbeit Regeln20 auf, die auch für den einzelnen VA gelten können:

  • Auch nicht-randomisierte Studien werden akzeptiert, falls sie qualitativ gut sind und in einer wissenschaftlichen Zeitschrift mit peer review publiziert wurden.
  • Abstracts als einziger Nachweis werden nicht akzeptiert.
  • Ebenfalls akzeptiert werden u.a.
    • Indikationen der EMEA (European Medicines Agency)21
    • Indikationen der FDA22 (Food and Drug Administration, USA)Guidelines der ESMO23 (European Society for Medical Oncology)
    • Guidelines der ASCO24 (American Society of Clinical Oncology)

Rechtsprechung

Onkologika (insbesondere off-label-use)

Gemäss nunmehr konstanter Rechtsprechung des Bundesgerichts wird ein off-label-use von der OKP ausnahmsweise vergütet. Voraussetzung ist, dass ein so genannter Behandlungskomplex (vgl. dazu BGE 120 V 214) vorliegt oder dass für eine Krankheit, die für die versicherte Person tödlich verlaufen oder schwere und chronische gesundheitliche Probleme nach sich ziehen kann, wegen fehlender therapeutischer Alternativen keine andere wirksame Behandlungsmethode verfügbar ist; diesfalls muss das Arzneimittel einen hohen therapeutischen (kurativen oder palliativen) Nutzen haben. Nebst der therapeutischen Wirksamkeit ist bei der Beurteilung eines off-label-use auch die Wirtschaftlichkeit zu berücksichtigen.

Zur Frage, wann das Kriterium des „hohen therapeutischen Nutzens“ erfüllt ist, äussert sich u.a. das Urteil KV.2007.00049 des Sozialversicherungsgerichts des Kantons ZH:

  • Hinweise zum Gehalt des geforderten hohen therapeutischen Nutzens liefert zunächst die Rechtsprechung zum Grundsatz der Wirksamkeit einer Therapie im Sinne von Art. 32 Abs. 1 KVG. Danach gilt für den Bereich der klassischen Medizin, dass die Wirksamkeit einer therapeutischen Vorkehr nach den Kriterien und Methoden der wissenschaftlichen Schulmedizin nachgewiesen sein muss. Zur Beurteilung der Wirksamkeit eines Medikaments hat eine vom einzelnen Anwendungsfall losgelöste und retrospektive allgemeine Bewertung der mit einer diagnostischen oder therapeutischen Massnahme erzielten Ergebnisse zu erfolgen. Eine individualisierte Betrachtungsweise in dem Sinne, dass einige Zeit nach der vorgenommenen Behandlung eine Erfolgskontrolle stattfindet, deren Ergebnis darüber entscheidet, ob die jeweilige medizinische Vorkehr als wirksam zu betrachten ist oder nicht, kann nicht ausschlaggebend sein. Vielmehr gilt es, anhand eines allgemeineren Massstabs die - objektivierte - Wirksamkeit einer bestimmten Behandlungsweise zu ermitteln, was breit abgestützte, im Regelfall auf internationaler Ebene erhobene wissenschaftliche Daten bedingt. Bei neu auf den Medizinalmarkt gelangenden Nischenmethoden und -produkten, welche oftmals nicht durch die finanziellen Kräfte grosser Unternehmungen getragen werden, gilt es dem Umstand, dass es zuweilen an aufwändigen, wissenschaftlich fundierten (Vorab-)Langzeitstudien fehlen dürfte, zwar Rechnung zu tragen. Dies ändert aber nichts daran, dass die in Frage stehende medizinische Behandlung im betroffenen medizinischen Wissenschaftsbereich doch grossmehrheitlich als grundsätzlich geeignet eingestuft werden muss, um als wirksam im krankenversicherungsrechtlichen Sinne gelten zu können.
  • Sodann hat die höchstrichterliche Rechtsprechung festgestellt, dass man sich zur Beurteilung, ob ein zu einem off-label-use berechtigender hoher therapeutischer Nutzen vorliegt, nach den Voraussetzungen orientieren kann, unter denen eine befristete heilmittelrechtliche Bewilligung für die Abgabe nicht zugelassener Arzneimittel gegen lebensbedrohende Krankheiten erteilt werden kann.

Die wichtigsten Urteile im Einzelnen:

BGE 130 V 532

hoher therapeutischer Nutzen bejaht in einem Fall, in welchem die verschriebene Therapie dazu geführt hatte, dass das Leben des Patienten um fast ein Jahr verlängert wurde und während rund einem halben Jahr eine praktisch vollständige Remission bestand.

BGE 131 V 349

Kostenübernahme für ein ohne Limitierungen in der Spezialitätenliste aufgeführtes Arzneimittel, welches in einer höheren als der von Swissmedic zugelassenen Dosierung abgegeben wird. Das ist auch ein off-label-use, weil die medizinische Indikation und die Dosierung eines Medikamentes zulassungsrechtlich und damit auch für die Aufnahme in die Spezialitätenliste in einem untrennbaren, engen Sachzusammenhang stehen. (der Fall betraf kein Onkologikum, ist aber auch auf diese Arzneimittel anwendbar).

9C_56/2008 (Herceptin-Urteil)

Im Zeitpunkt des Einsatzes des Arzneimittels handelte es sich um einen off-label-use. Die Frage des hohen therapeutischen Nutzens für die betreffende Patientin wird offen gelassen. Grund: Im vorliegenden Fall könne nicht von der Tatsache abstrahiert werden, dass Herceptin für die streitige Indikation nur relativ kurze Zeit nach dem hier erfolgten Therapiebeginn in die Spezialitätenliste aufgenommen worden sei. Die Kosten wären daher von der Grundversicherung ohne weiteres übernommen worden, wäre die Versicherte nur einige Monate später behandelt worden. Unter diesen Umständen erscheine es als unbillig, ihr die Kostenübernahme zu verwehren. Um dem Wirtschaftlichkeitsgebot Nachachtung zu verschaffen und keine Anreize zu schaffen, die Listenaufnahme mit der damit verbundenen Preiskontrolle durch verzögerte Zulassungsverfahren zu umgehen, sei zu verlangen, dass im Rahmen des off-label-use Kosten nur in dem Umfange übernommen werden, wie sie auch gemäss einer Preisfestsetzung in der Spezialitätenliste zu übernehmen wären.

Onkologische Behandlungen im Ausland

Grundsätzlich vergütet die OKP nur Behandlungen in der Schweiz (Territorialitätsprinzip). Eine Ausnahme vom Territorialitätsprinzip gemäss Art. 36 Abs. 1 KVV in Verbindung mit Art. 34 Abs. 2 KVG setzt den Nachweis voraus, dass entweder in der Schweiz überhaupt keine Behandlungsmöglichkeit besteht oder aber im Einzelfall eine innerstaatlich praktizierte diagnostische oder therapeutische Massnahme im Vergleich zur auswärtigen Behandlungsalternative für die betroffene Person erheblich höhere, wesentliche Risiken mit sich bringt und damit eine mit Blick auf den angestrebten Heilungserfolg medizinisch verantwortbare und in zumutbarer Weise durchführbare, mithin zweckmässige Behandlung in der Schweiz konkret nicht gewährleistet ist. Bloss geringfügige, schwer abschätzbare oder gar umstrittene Vorteile einer auswärts praktizierten Behandlungsmethode, aber auch der Umstand, dass eine spezialisierte Klinik im Ausland über mehr Erfahrung im betreffenden Fachgebiet verfügt, vermögen für sich allein noch keinen "medizinischen Grund" im Sinne von Art. 34 Abs. 2 KVG abzugeben.

Urteile:

K 131 V 271

Adenokarzinom des Rektums – Kostenübernahme einer intraoperativen Radiotherapien in den USA, die in der Schweiz nicht angeboten wurde. In der Schweiz existierte für diese Krankheit eine adäquate Standardtherapie. Keine Leistungspflicht, weil die Therapie in den USA ein (vom Patienten forciertes) „traitement maximaliste“ war. Der Umstand, dass eine in Betracht gezogene, in der Schweiz nicht angebotene Behandlung im Ausland das Rückfallrisiko in einem nur schwer eruierbaren Ausmass vermindert, genügt als Rechtfertigung für eine Kostenübernahme durch die obligatorische Krankenpflegeversicherung nicht.

K 1/06

Mammakarzinom – Kostenübernahme einer „avantgardistischen“ Therapieform in Italien, die in der Schweiz (noch) nicht angeboten wurde. Die ins Feld geführten Vorteile dieser Therapieform vermochten keine Leistungspflicht zu begründen, weil in der Schweiz eine zweckmässige und wirksame Behandlung, ohne Inkaufnahme erheblich höherer Risiken, hätte in Anspruch genommen werden können.

9C_479/2008

Pankreaskarzinom – Kostenübernahme einer „selektiven internen Radiotherapie“ (SIRT) in Deutschland. In der Schweiz wurde zur Behandlung eine palliative Chemotherapie durchgeführt, in Deutschland eine operative Pankreasresektion und anschliessend eine SIRT vorgenommen.

Dass hier im konkreten Einzelfall die Behandlung erfolgreich war, kann nicht ausschlaggebend sein, denn die Wissenschaftlichkeit und Wirksamkeit einer Behandlungsart beurteilt sich nicht retrospektiv nach dem im Einzelfall konkret eingetretenen Behandlungsergebnis, sondern allgemein im Voraus aufgrund der verfügbaren wissenschaftlichen Methoden, welche es ausschliesst, die Leistungspflicht vom Verlauf des Einzelfalles abhängig zu machen. Es liegen keine Studien vor, die die SIRT in der hier gegebenen Behandlungssituation (Pankreaskarzinom mit Lebermetastasen) bereits als wissenschaftlich anerkannt ausweisen. Bei dieser Sachlage ist die Kostenübernahme auch unabhängig von der Frage der Auslandbehandlung abzulehnen.

K 172/04

Prostatakarzinom – Brachytherapie (Low Dose Seed Therapy) in den USA. Diese Therapie war zum damaligen Zeitpunkt in Anhang 1 KLV explizit als Nichtpflichtleistung aufgeführt, weshalb eine Kostenübernahme a priori (d.h. egal ob in den USA oder in der Schweiz durchgeführt) verneint werden muss.

Onkolgische Leiden als Berufskrankheit (namentlich: Asbest)

Onkologische Leiden können mitunter rechtlich als Berufskrankheit qualifiziert werden und folglich eine Leistungspflicht der Unfallversicherung gemäss UVG auslösen. Das Bundesgericht hat sich in der Vergangenheit in diesem Zusammenhang v.a. mit den Folgen von Asbestexpositionen befassen müssen.

Gemäss Praxis der SUVA wird eine Berufskrankheit bei Vorliegen eines malignen Pleuramesothelioms unter bestimmten Voraussetzungen (Asbestexposition in der beruflichen Tätigkeit, Latenzzeit von mindestens 15 Jahren) bejaht, während die Anerkennung von Lungenkrebs als (asbestbedingte) Berufskrankheit von den sogenannten "Helsinki-Kriterien" abhängt. Bei Letzeren muss zur Anerkennung einer Berufskrankheit eine der folgenden Voraussetzungen erfüllt sein (SUVA, Medizinische Mitteilungen 2007 S. 61 ff., 64): Eine kumulative Asbestdosis von mindestens 25 sogenannten Faserjahren gemäss Arbeitsanamnese; bestimmte Befunde der Lungenstaubanalyse (über 2 Mio. [Länge über 5 Mikrometer] resp. über 5 Mio. [Länge über 1 Mikrometer] Amphibolfasern pro Gramm Lungentrockengewicht, über 5000 Asbestkörperchen pro Gramm Lungentrockengewicht, über 5 Asbestkörperchen pro Milliliter BAL [Bronchoalveoläre Lavage]); eine Asbestose (auch histologisch dokumentierte Minimalasbestose); bilaterale, diffuse, mit Wahrscheinlichkeit asbestinduzierte Pleuraverdickungen.

Wird eine Berufskrankheit bejaht, steht sich die Frage nach dem Anspruch auf eine Integritätsentschädigung bei Versicherten, die während ihres Berufslebens mit Asbest in Kontakt gekommen und infolge dessen an Krebs erkrankt sind. Die SUVA zahlt Versicherten 6 Monate nach Ausbruch der Krankheit im Sinne eines Vorschusses eine Integritätsentschädigung von 40 % aus. Wenn ein Asbestopfer nach Ausbruch der Krankheit nach 18 Monaten noch lebt, wird die zweite Tranche von 40 % ausgerichtet. Diese Entschädigungsregelung beruht auf dem Gedanken, dem Versicherten für die immaterielle Beeinträchtigung eine Entschädigung auszurichten, solange er noch lebt. Diese Praxis ist grosszügiger als die Rechtsprechung des Bundesgerichtes, welche erst nach Abschluss der kurativen Behandlung und zusätzlich 12 Monate palliative Behandlung einen Anspruch auf eine Integritätsentschädigung bejaht (BGE 133 V 224)


1 Im folgenden wird der Begriff "off label use" weit gefasst, d.h. - falls nicht anders erwähnt - auch für die orphan indication und die Anwendung ausserhalb einer SL-Limitation verwendet.
2 Persönliche Mitteilung Dr. B.Seiler, Helsana
3 NEJM 351:337(2004)
4 Tabernero J et al Phase II Trial of Cetuximab in Combination With Fluorouracil, Leucovorin, and Oxaliplatin in the First-Line Treatment of Metastatic Colorectal Cancer. J Clin Oncol. 25; 5225 (2007)
5 J Clin Oncol. 23;1803 (2005)
6 Karapetis CS et al. K-ras Mutations and Benefit from Cetuximab in Advanced Colorectal Cancer. NEJM 359:1757 (2008)
7 NEJM 346:92-98 (2002
8 ESMO Clinical Recommendations Ann Onc 20; iv 68 (2009)
9 http://www.vertrauensaerzte.ch/expertcom/oncology/methods.html
10 Ann Onc. 18; 1923 (2007) Casali PG The off-label use of drugs in oncology: a position paper by the European Society for Medical Oncology
11 Europ J Cancer 45; 228 (2009)
12 Nach RECIST eine Abnahme der Summe der Tumordurchmesser um mehr als 30% des Ausgangswertes.
13 Nach RECIST eine Zunahme der Summe der Tumordurchmesser um mehr als 20% verglichen mit dem kleinsten Wert
14 Handbuch SL 823
15 Handbuch SL 812
16 http://www.nicer-swiss.ch/
17 www.swissmedic.ch/daten/00081/index.html?lang=de
18 Das KVG sagt dazu lediglich: Art. 32 Voraussetzungen: die Wirksamkeit muss nach wissenschaftlichen Methoden nachgewiesen sein. Die KVV: Art. 65a Beurteilung der Wirksamkeit: Die Beurteilung der Wirksamkeit von allopathischen Arzneimitteln muss sich auf klinisch kontrollierte Studien abstützen.Und die KLV: Art. 32 Wirksamkeit. Das BAG stützt sich für die Beurteilung der Wirksamkeit auf die Unterlagen, die für die Registrierung durch die Swissmedic massgebend waren. Es kann weitere Unterlagen verlangen.
19 New Engl J Med 356, 125 (2007)
20 Methodenpapier für das Fachgebiet Onkologie der Arbeitsgruppe SGV/SGMO. http://www.vertrauensaerzte.ch/expertcom/oncology/methods.html
21 http://www.emea.europa.eu/htms/human/epar/a.htm
22 http://www.accessdata.fda.gov/scripts/cder/drugsatfda/index.cfm
23 http://www.esmo.org/career/practice-tools/esmo-clinical-recommendations.html
24 http://www.asco.org/ASCOv2/Practice+%26+Guidelines/Guidelines

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