Schweizerische Gesellschaft der Vertrauens- und Versicherungsärzte

Neurologie

Der Vertrauensarzt soll die Besonderheiten und auch Fallstricke bei der Beurteilung der nachfolgend diskutierten neurologischen Krankheitsbilder und Syndrome in Bezug auf Diagnostik, Prävention, Medikation und operative Verfahren kennen.

Alzheimer und andere dementielle Erkrankungen

Diagnostik:

  • In der Regel sind eine sorgfältige kognitive Testung resp. eine neuropsychologische Untersuchung, ein Schädel-MRI und Labor (Ausschluss behandelbarer metabolischer Demenzformen) für die Diagnose ausreichend.
  • In unklaren Fällen können Liquorparameter (Beta-Amyloid 1-42, Gesamt-Tau und phosporyliertes Tau) zur Abgrenzung gegenüber nicht dementen Personen resp. gegenüber anderen Demenzformen herangezogen werden.
  • Bei Personen mit Demenzverdacht, aber inkonsistenten Befunden, kann die PET mit „Plaque-Imaging“ (Amyvid®, Florbetapir) diagnostisch klärend sein, ist jedoch gemäss Anhang 1 KLV keine Pflichtleistung.

Arzneimittel:

  • Cholinesterasehemmer (Donepezil, Aricept® und diverse Generika; Rivastigmin, Exelon®; Galantamin, Reminyl®): Insgesamt ist der Effekt eher bescheiden. Bei Werten im MMSE (Mini-Mental-State) < 10 ist die Anticholinergika-Behandlung abzubrechen.
  • Memantin (Axura®, Ebixa®und diverse Generika) bei mittelschwerem bis schwerem M. Alzheimer (MMSE <20). Bei MMSE < 3 ist die Memantinbehandlung abzubrechen.
  • Eine Kombination eines Esterasehemmers mit Memantin ergibt keinen eindeutigen zusätzlichen Benefit und ist daher nicht generell zu empfehlen. Gemäss SL (Limitatio) kann die Behandlung nur mit einem Präparat durchgeführt werden. Bei leichter bis mittelschwerer Parkinson-Demenz ist einzig Exelon® in Tablettenform in der SL. Es können off label auch Exelon® als Patch (bessere gastrointestinale Verträglichkeit) oder ein anderer (peroraler) Cholinesterasehemmer eingesetzt werden.
  • Gingkopräparate: Die Ergebnislage bei der Demenzbehandlung ist inkonsistent hinsichtlich einer klinisch relevanten Wirksamkeit.

Amyotrophische Lateralsklerose (ALS) und andere Motoneuron-Erkrankungen

Arzneimittel:

  • Riluzol (Rilutek®), ein Glutamatantagonist, ist der einzige bei ALS in der SL gelistete Wirkstoff, welcher den Krankheitsverlauf nachweislich günstig beeinflusst.
  • Das regelmässig intravenös zu verabreichende Antioxidantium Edavarone (Radicut®) hat eine leicht verzögernde Wirkung auf den Abbau der motorischen Funktionen bei ALS, (OLU; in der Schweiz nicht zugelassen).
  • Nusinersen (Spinraza®) wird gemäss IV-Rundschreiben Nr. 373 bei der 5q-assoziierten spinalen Muskelatrophie (SMA) Typ I-III von der IV bzw. OKP übernommen. Spinraza® wird intrathekal appliziert und darf nur in spitalbasierten, spezialisierten neuromuskulären Zentren verabreicht werden. Es ist bei Kindern unter und über 6 Monaten wirksam. Bei Juvenilen und Erwachsenen mit derselben Mutation (SMA III resp. IV) ist die Wirkung nicht belegt (Link pubmed).

Rehabilitation:

Die Durchführung einer stationären neurologischen Rehabilitation ist in den meisten Fällen von ALS angesichts des rasch progredienten Verlaufs nicht hilfreich.

Epilepsie

Medikation:

Bei den einzelnen antiepileptischen Arzneimitteln ergibt sich ein besonderes Problem beim Wechsel auf inhaltsgleiche Präparate (aut idem). Bei Patienten mit Epilepsie, die in sorgfältig titrierten Wirkbereichen behandelt werden, können nach einem derartigen Wechsel Konzentrationsschwankungen einerseits zum Auftreten von unerwünschten Nebenwirkungen und andererseits zu einem Wirkverlust, d.h. zu erneuten Anfällen führen. Dies wurde in der Fachliteratur wiederholt dokumentiert. Daher sollte ein Präparatewechsel nicht erfolgen, wenn durch die bestehende Dosierung Anfallsfreiheit erzielt und die gewählte Dosis gut toleriert wird.

Epilepsiechirurgie:

Siehe Kapitel Neurochirurgie.

Rehabilitation:

Eine stationäre neurologische Rehabilitation kommt insbesondere nach epilepsie-chirurgischen Eingriffen in Frage. Das Modulare Schulungsprogramm Epilepsie MOSES ist ein interaktives Programm, das die Schulung von Betroffenen in Kleingruppen ermöglicht.

Funktionelle („psychogene“) Lähmungen

Bei diesen Patienten kann sowohl eine neurologische, eine psychiatrische oder eine psychosomatische stationäre Rehabilitation erforderlich werden.

Migräne und andere Kopfschmerzen

Arzneimittel:

  • Zur Migräneprophylaxe sind Propranolol, Topirama, Flunarizin und Erenumab (Aimovig®)in der SL gelistet.
  • Nicht gelistet (OLU): Magnesium, Amitryptilin , Valproinsäure, Vitamin B2, Lisinopril, Candesartan und gegen chronische Migräne Botulinumtoxin.

Aktuell drängen die Calcitonin Gene-Related Peptide(CGRP)-Hemmer zur Migräneprophylaxe auf den Markt (Link Pubmed): Die Behandlung mit Erenumab (Aimovig®) bedarf der Kostengutsprache durch den Krankenversicherer nach vorgängiger Konsultation des Vertrauensarztes. Die Erteilung der Kostengutsprache soll maximal eine Dauer von 12 Monaten abdecken. Die Diagnosestellung, die Verordnung von Aimovig® und die Verlaufskontrolle darf ausschliesslich durch einen Facharzt für Neurologie erfolgen. Die Substanz wird monatlich sc injiziert. Fremanezumab, Galcanezumab und Eptinezumab sind noch nicht zugelassen. Die CGRP-Hemmer sind Placebo überlegen, ein Direktvergleich mit einem herkömmlichen Basistherapeutikum fehlt.

Ein CGRP-Hemmer kann bei episodischer oder chronischer Migräne eingesetzt werden, wenn zuvor zwei herkömmliche Präparate während je dreier Monate ohne Wirkung eingenommen wurde oder wenn mehrere Präparate nicht toleriert wurden. (Link Pubmed / Link Pubmed).

Medikamentenübergebrauchskopfschmerz

Der Entzug der missbrauchten Substanz ist die Therapie der Wahl. Ein stationärer Entzug ist indiziert bei langjährigem Missbrauch, Einnahme psychotroper Substanzen (Barbiturate, Benzodiazepine), kodeinhaltiger Analgetika oder von Opioiden sowie bei Depression, bei einem schwierigen familiären Umfeld oder nach einem früheren erfolglosen ambulanten Entzug.

Multiple Sklerose

Arzneimittel:

Zur Basisbehandlung der schubweise verlaufenden MS (RRMS) sind folgende Präparate in der SL gelistet:

  • Avonex® (Interferon beta 1a i.m.), Plegridy® (pegyliertes Interferon beta 1a s.c.), Rebif® (Interferon beta 1a s.c.), Betaferon® (Interferon beta 1b s.c.), Copaxone® und Glatiramyl ® (beide Glatiramerazetat s.c.).
  • Aubagio® (Teriflunomid p.o.), Tecfidera®(Dimethylfumarat p.o.), Gilenya® (Fingolimod p.o.).
  • Tysabri® (Natalizumab i.v.), Ocrevus® (Ocrelizumab i.v.), Lemtrada® (Alemtuzumab i.v.), Novantron® (Mitoxantron i.v.).

Die intravenös verabreichbaren Präparate sind aktiven schubförmigen MS-Formen vorbehalten.

Zur Behandlung der sekundär chronisch-progredient verlaufenden MS (SPMS) sind folgende Präparate gelistet: Rebif®, wenn überlagerte Schübe das Geschehen prägen, Betaferon®, auch wenn überlagerte Schübe im Hintergrund stehen oder gar fehlen und Novantron® (bei aggressivem Verlauf).

Bei der primär progredienten MS (PPMS) ist bisher als einziges Präparat Ocrevus® gelistet.

Die 'autologe Stammzelltransplantation (aHSCT) ist zur MS-Behandlung PL (siehe 2.1 Anhang 1, KLV).

Symptomatische Therapie:

Sativex® (THC, Cannabidiol) kann als Spray bei schwerer MS-bedingter Spastik und fehlendem Ansprechen auf andere Antispastika angewandt werden.

Fampyra®(4-Aminopyridin) führt zu einer marginalen Verbesserung der MS-bedingten Gangstörung (OLU; in der Schweiz nicht zugelassen).

Rehabilitation:

Siehe Neurorehabilitation.

Parkinson-Syndrom

Diagnostik:

Funktionelle Bildgebung wie DaTSCAN™ in Einzelfällen indiziert, etwa bei klinisch schwieriger bis unmöglicher Unterscheidung zwischen Parkinson-Syndrom und essentiellem Tremor (Link Pubmed).

Arzneimittel:

  • Peroral: Grundsätzlich werden L-Dopa (mit Decarboxylasehemmer), Dopaminagonisten, COMT-Hemmer, MAO B-Hemmer und Amantadin eingesetzt. Ausser den COMT-Hemmern können all diese Präparate zu Krankheitsbeginn als Monotherapie gegeben werden.
  • Via Infusionspumpen: Die Pumpenapplikation mit subkutanem Apomorphin ermöglicht eine kontinuierliche Rezeptorstimulation auch in fortgeschrittenen Stadien. Eine Monotherapie ist möglich. Die intra-jejunale Duodopa®-Therapie ist zur Behandlung des idiopathischen Parkinson-Syndroms (IPS) im fortgeschrittenen Stadium mit ausgeprägten Wirkungsfluktuationen von Swissmedic zugelassen, jedoch nicht in der SL, deshalb OLU. Durch die kontinuierliche Gabe wird in Matrixform gebundenes L-Dopa direkt im Jejunum aus einer perkutan gelegten Sonde (PEG) freigesetzt. Dies führt zu einem gleichmässigen L-Dopa-Spiegel im Blut. Die Behandlung ist technisch anspruchsvoll und sollte ausschliesslich einem Parkinson-Kompetenz-Zentrum vorbehalten sein. Die Angehörigen sollten durch eine Parkinson-Nurse angeleitet und begleitet werden.

Operative Verfahren:

Unter den stereotaktischen Eingriffen ist die tiefe Hirnstimulation (Nucl. subthalamicus, Gl. Pallidus, Thalamus) gegenüber ablativen Verfahren zu favorisieren. Für den focussierten Ultraschall zur stereotaktischen Parkinsontherapie stehen grössere Studien noch aus, mit der routinemässigen Anwendung dieser Methode sollte zugewartet werden (Pt. 2.3 Anh. 1, KLV).

Rehabilitation

Siehe Neurorehabilitation.

Indikationen:

  • Anhaltend schwer gestörte Kontrolle von Kardinalsymptomen (Akinese, Rigor, Tremor, posturale Instabilität).
  • Gezielte Behandlung von Begleitsymptomen wie Sprech- und Schluckstörungen, Blutdruckschwankungen, Dranginkoninenz, psychomentale Probleme.
  • Gezielte Hilfestellung bei der Alltagsbewältigung.
  • Einleitung einer Infusionspumpentherapie (Apomorphin, Duodopa®).
  • Im Anschluss an stereotaktische Eingriffe.

In der Regel sind dafür Ausstattung und Erfahrung eines neurologischen Parkinson-Zentrums erforderlich.

Periphere Lähmungen

Rehabilitation:

In der Regel kommen wohl in erster Linie ambulante Rehabilitations-Verfahren zur Anwendung, bei gleichzeitig vorliegenden psychomentalen Beeinträchtigungen oder schwerwiegenden Begleiterkrankungen auch stationäre.

Polyneuropathien

B. bei Diabetes oder B12-Mangel) ist eine wirksame Behandlung der Ursache indiziert.

Gegen neurogene Schmerzen können Pregabalin oder Gabapentin eingesetzt werden, gegen Schmerzen bei diabetischer Neuropathie auch Duloxetin (Link Pubmed).

Polyradikulitis Guillain-Barré (GBS) und andere immunvermittelte Neuropathien

Medikation:

Der Einsatz intravenöser Immunglobuline kann bei GBS und auch bei anderen Immun-Neuropathien (z.B. chronische inflammatorische demyelinisierende Polyradikuloneuropathie CIDP, multifokale motorische Neuropathie MMN) indiziertsein. Limitatio beachten.

Rehabilitation:

Funktionell handelt es sich um sehr unterschiedlich stark ausgeprägte Funktionsstörungen, die bis zur Tetraplegie mit Dysphagie reichen können. Dementsprechend kann bei insgesamt guter Prognose des Krankheitsbildes eine mehrmonatige stationäre neurologische Rehabilitation erforderlich werden.

Neurorehabilitation: Patienten mit Erkrankungen des Nervensystems

Oktober 2018, Dr. med. Adriano Bont
Update: Januar 2019

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