Schweizerische Gesellschaft der Vertrauens- und Versicherungsärzte

Neurorehabilitation: Patienten mit Erkrankungen des Nervensystems

Grundlage für das Unterkapitel Neurorehabilitation sind die allgemeinen Kapitel Rehabilitation. Besondere Gesichtspunkte der Neurorehabilitation und Abweichungen vom allgemeinen Kapitel werden speziell aufgeführt.

Häufigste Indikationen für Neurorehabilitation

  • Cerebrovaskulärer Insult (ischämisch, hämorrhagisch)
  • traumatische Hirnverletzung (Schädelhirntrauma)
  • Morbus Parkinson und andere degenerative Hirnerkrankungen (allenfalls kombiniert mit medikamentöser Einstellung)
  • Hypoxische Hirnschädigung, entzündliche Hirnerkrankungen
  • Multiple Sklerose
  • Hirntumore (postoperativ, inoperabler Residualzustand). Ausschlusskriterien: rasche, inoperable Progredienz
  • Periphere Neuropathien (z.B. Guillain-Barré Syndrom)
  • Degenerative, nicht primär mit Demenz verbundene Hirnerkrankungen (wie z.B. M. Kurschmann-Steinert)
  • Muskelerkrankungen (z.B. Polymyositis, Muskeldystrophien)
  • Rückenmarksschädigungen
  • Kraniozervikales Beschleunigungstrauma.

Hauptziel jeder Neurorehabilitation ist das Erreichen der grösstmöglichen Selbständigkeit im Alltag und Berufsleben.

Stationäre Neurorehabilitation

Eine stationäre Neurorehabilitation ist bei den folgenden Zuständen absolut indiziert:

  • Neu aufgetretene Lähmungen des (zentralen oder peripheren) Nervensystems mit behandlungsbedürftigen erheblichen Einschränkungen des Gehens, Schluckens oder der distal betonten Armfunktionen.
  • Neu aufgetretene Einschränkungen im kognitiven oder motorischen Bereich, welche die selbstständige Lebensführung zurzeit verhindern, insbesondere auch Aphasien, d.h. erhebliche Störungen der sprachlichen Verständigung.
  • Persönlichkeitsveränderungen nach Hirntrauma, Entzündung, Blutung, welche für das Leben zu Hause nicht zumutbar sind.

Die einzusetzenden Therapieprogramme sind von Fall zu Fall und teils auch für verschiedene Ätiologien der Läsionen des Nervensystems verschieden. Sie sind vom behandelnden Rehabilitationsteam individuell festzulegen auf der Basis der evidenzbasieren bewährten Behandlungsrichtlinien. Das vom Team festgelegte Programm soll in der Klinikdokumentation klar festgehalten und anhand der Ratings laufend überprüft werden.

Dauer der stationären Neurorehabilitation

Eine stationäre Neurorehabilitation während lediglich 3-4 Wochen (wie in der muskuloskelettalen Rehabilitation oft genügend) reicht nach akuten Läsionen des Zentral-Nervensystems meist nicht zum Erreichen einer relevanten Funktionsverbesserung. Sinnvoll sind hier initial 6 Wochen mit einer Rückmeldung über die Fortschritte an den Kostenträger bei Halbzeit. Verlängerungen sollen in der Folge bewilligt werden, solange die obligaten Verlaufsratings (siehe unten) Fortschritte belegen. Sind über 6 Wochen keine Fortschritte mehr messbar, so soll das stationäre Neurorehabilitations-Programm in der Regel unterbrochen werden (bei Patienten mit stark reduziertem Bewusstsein gelten andere Regeln). Eine Wiederaufnahme soll bei später deutlich gesteigertem Rehabilitationspotential (gemäss Einschätzung durch eine erfahrende medizinische Neurorehabilitations-Fachperson) ermöglicht werden.

Stationäre Neurorehabilitation in der chronischen Phase

Eine erneute stationäre Neurorehabilitation (Re-Rehabilitation) ist für folgende Situationen indiziert:

  • bei erheblicher Verschlechterung eines früher durch Behandlungen erlangten Funktionszustandes, welche sich durch ambulante (meistens höchstens wöchentliche Therapien) nicht mehr kompensieren lässt (insbesondere bei nicht progredienten neurologischen Erkrankungen wie St. n. traumatischer oder vaskulärer Hirnverletzung, aber auch bei MS, M. Parkinson und ähnlichen Krankheitsbildern).

Teilstationäre Neurorehabilitation

Diese erfolgt in speziellen Tageskliniken mit adäquatem Therapieangebot. Sie ist indiziert einerseits als Fortsetzung der oben aufgeführten stationären Neurorehabilitation bei weiterbestehenden relevanten und behandlungsfähigen Störungen, zudem bei leichteren Formen der oben genannten Störungen. Auch hier ist eine Quantifizierung der Fortschritte zu verlangen.

Qualifizierte Institutionen für die Durchführung der Neurorehabilitation

In der Schweiz gelten allgemeine, von den nationalen Fachgesellschaften (für Neurologie und Neurorehabilitation) verfasste Anforderungsprofile. Nur Kliniken, welche diese Anforderungsprofile erfüllen, können auf die kantonalen Spitallisten für Neurorehabilitation aufgenommen werden. Einzelne Kliniken haben sich zudem durch besondere Erfahrungen und Teams für die Rehabilitation von gewissen Krankheitsbilder spezialisiert (z.B. M.Parkinson, MS oder Querschnittslähmungen).

Spezielle Anforderungen an die Neurorehabilitations-Programme

Die Neurorehabilitation muss bei einer akuten (vaskulären oder traumatischen) Schädigung des Gehirns bereits in den ersten Tagen (Intensivstation, Stroke Unit) beginnen. Ein intensives spezifisches stationäres Neurorehabilitations-Programm muss ohne Verzögerung begonnen werden, da damit die erreichbare Erholung der Funktionen signifikant besser ist.

Bei jeder stationären Neurorehabilitation ist ein initiales Rating der Selbständigkeit Pflicht. Lassen sich keine messbaren Verbesserungen mehr über 4-6 Wochen erzielen, so ist ein Abbruch/Unterbrechung der stationären Rehabilitation angezeigt.

Jede Neurorehabilitation soll sich an einer konkreten Zielsetzung orientieren. Oft ist es aber erst nach einer ein- bis mehrwöchigen Explorationsphase möglich, diese Ziele sinnvoll zu setzen und ihre Umsetzung realistisch abzuschätzen. Erfahrungsgemäss ist dies erst in der Neurorehabilitation-Klinik und nicht schon beim Zuweiser zuverlässig möglich. Diese Ziele variieren von Fall zu Fall sehr stark; im Zentrum steht meistens ein Aspekt der Selbständigkeit wie z.B. Mobilität ohne Hilfsperson, selbständiges Wohnen, Kommunikationsvermögen, evtl. Erreichen einer (Teil-) Arbeitsfähigkeit.

Es ist aber kontraproduktiv, bei unklarer Zielsetzung des Zuweisers die Kostengutsprache zu verzögern, da damit das Outcome des Patienten und damit auch die langfristig anfallenden Kosten mit grosser Wahrscheinlichkeit schlechter sind.

Die Neurorehabilitation-Kliniken sind verpflichtet, die Bezugspersonen adäquat über die Störungen, deren Auswirkungen und das Verhalten dem Patienten gegenüber zu informieren.

Patienten – Rating in der Neurorehabilitation

Es gibt praktisch keine Hirnläsionen ohne zumindest partielle Störungen der kognitiven Funktionen, weshalb bei den allermeisten dieser Patienten in der Frühphase eine neuropsychologische Untersuchung durchzuführen ist.

Die gestörten Funktionen sollen regelmässig durch ein etabliertes Messinstrument (wie FIM, Barthel-Index) erfasst und quantifiziert werden. Die Resultate dieser Messungen (zumindest alle paar Wochen) bilden die Basis für die Entscheidung, ob und wie lange eine stationäre Neurorehabilitation weitergeführt werden muss oder allenfalls ein Wechsel in ein ambulantes Programm umzusetzen ist. Dabei sind der Selbständigkeit-Grad des Patienten und teils das Ausmass von allfälligen Wesensveränderungen entscheidend.

Bei noch reduzierter Belastbarkeit sind bei der Zielsetzung die Verbesserungen der Selbständigkeit vorzuziehen.

Eine Abklärung der visuellen Funktionen ist im Frühstadium durch eine neuroophthalmologisch geschulte Fachperson vorzunehmen, da Störungen in diesem Bereich gemäss neueren Studien mehrheitlich übersehen werden, die Selbständigkeit und Leistungsfähigkeit jedoch entscheidend beeinträchtigen. Fast alle entsprechenden gestörten visuellen Funktionen können durch adäquate Therapie verbessert werden.

Spezielle Patientenkategorien und Sprachstörungen

Eine Rehabilitation von Sprachstörungen / Aphasie durch Logopädie muss zwingend mindestens 3-mal pro Woche durchgeführt werden.

Die Indikation wird durch die klinische Relevanz der Störungen geleitet. Sie ist indiziert, wenn mindestens eine der folgenden Funktionen gestört ist: Sprechen, Verstehen, Lesen,Rechnen, Kommunikation durch Gesten. In der Akutphase (ca. 6 Monate) soll die Aphasietherapie (Logopädie) mindestens 3-mal wöchentlich erfolgen (erst mit dieser Behandlungsintensität ist nach zahlreichen Studien ein Erfolg zu erwarten). Später sollen die vom Patienten selber oder in einer Gruppentherapie durchzuführenden Übungen noch supervidiert werden. Für die Fortsetzung der Sprachtherapie sollen ein spezieller Einsatz und die Motivation des Patienten vorhanden sein. Weitere spätere Behandlungen (bei Fortbestand klinisch relevanter Sprachprobleme) sollen in intensiven Behandlungsblocks erfolgen (3 Monate mit 3 Wochenstunden). Damit kann ein wesentlich grösserer Behandlungserfolg erwartet werden als bei nur 1 Stunde pro Woche über viele Monate. Eine erst nach über einem Jahr verordnete Sprachtherapie ist bei Weiterbestehen der oben genannten Funktionsstörungen bei intensiver Anwendung (wie in der Akutphase) ebenfalls erfolgreich und damit indiziert, wie neuste Studien im Lancet belegen. Sinnvoll ist in jedem Fall die periodische Überprüfung der weiter bestehenden klinischen Relevanz der Sprachstörungen durch einen in der Rehabilitation geschulten Neurologen, dies ca. alle 3 Monate. Dabei soll auch auf nachgewiesene Verbesserungen in entsprechenden Rating-Skalen abgestellt werden.

Bei Patienten mit Schluckstörungen / Dysphagie ist die Therapie durch speziell ausgebildete Therapeuten (vor allem Logopäden mit entsprechender Zusatzausbildung) indiziert. Ziel ist das Erreichen einer mindestens partiellen Nahrungsaufnahme peroral ohne Aspiration. Die Neurorehabilitationskliniken haben alle entsprechend ausgebildete Therapeuten.

Patienten mit Querschnittslähmungen (Paraparese / Paraplegie oder Tetraparese / Tetraplegie) gehören in entsprechend spezialisierte Rehabilitationskliniken. Diese müssen auch die Kompetenz zur Behandlung von urologischen Komplikationen haben.

Bei komplexeren progredienten Krankheitsbildern wie Parkinson und MS ist eine stationäre Neurorehabilitation vor allem indiziert, wenn damit eine Verbesserung der Selbständigkeit erreicht werden kann.

Bei Erkrankungen oder Läsionen des peripheren Nervensystems ist eine stationäre Neurorehabilitation nur indiziert, wenn durch diese Störungen die Selbständigkeit erheblich beeinträchtigt ist.

Schwer hirnverletzten Patienten im «minimal conscious state» (Syndrom minimalen Bewusstseins) oder im «unresponsive wakefulness syndrome» (Syndrom reaktionsloser Wachheit, früher Wachkoma) sollen in einer spezialisierten Neurorehabilitations-Einheit behandelt werden.

Patienten mit psychogenen Lähmungen benötigen ein Programm mit kombinierter somatischer (Physiotherapie, evtl. auch Ergotherapie) und psychotherapeutischer Behandlung mit enger Koordination beider Therapiezweige.

Patienten mit erheblichen organischen Hirnläsionen, bei denen die Persönlichkeitsveränderungen einen limitierenden Faktor bilden, gehören in aller Regel nicht in eine Psychiatrische Klinik, sondern in die Neurorehabilitation.

Literatur-Referenzen / Weiterführende Fachliteratur-Übersichten

Guidelines der DGN (Deutsche Gesellschaft für Neurologie).

Update Neurorehabilitation 2016, Th. Platz (Herausgeber), Hippocampus Verlag.

Textbook of Neural Repair and Rehabilitation (offizielles Handbuch der World Federation of Neurorehabilitation, Editoren: M. Selzer, St. Clarke, L. Cohen, P. Duncan, F. Gage; Cambridge University Press, 2006.

Oktober 2017
Dr. med. Peter Zangger

Schweizerische Gesellschaft der Vertrauens- und Versicherungsärzte

Fragen, Anregungen

Haben Sie Fragen, Bemerkungen oder Anregungen zur Gestaltung unserer Homepage?

Teilen Sie uns das doch bitte mit und kontaktieren Sie unsere Geschäftsstelle.

Geschäftsstelle

SGV
c/o MBC Markus Bonelli Consulting
Rudolf Diesel-Strasse 5
8404 Winterthur

Tel. 052 226 06 03
Fax 052 226 06 04

Email info@vertrauensaerzte.ch