Schweizerische Gesellschaft der Vertrauens- und Versicherungsärzte

Arzneimittel

Überblick

Die Arzneimittel und deren Anwendung werden aus gesundheitspolizeilicher Warte durch HMG, BetmG, GUMG und kantonale Gesundheitsgesetze, aus sozialversicherungsrechtlicher Warte durch ATSG, IVG und KVG geregelt.

Das EDI erstellt die ALT, das BAG die SL unter Beachtung der WZW-Kriterien. Die ALT enthält die in der Rezeptur verwendeten Präparate, Wirk- und Hilfsstoffe mit entsprechenden Tarifen.

Die SL enthält rund 2500 registrierte Arzneimittel. Deren Anwendung und Abgabe gemäss der Fachinformation sind Pflichtleistung für den Krankenversicherer. Die Anwendung und Abgabe speziell gekennzeichneter Arzneimittel der SL sind zwecks Einhalten der WZW-Kriterien limitiert.

Off-Label- oder Unlicensed-Use von Arzneimitteln kann von den Versicherern im Einzelfall nach Empfehlung des Vertrauensarztes übernommen werden. Der Vertrauensarzt berät den Versicherer, nachdem er die Indikation zur Anwendung und den potentiellen therapeutischen Nutzen des Arzneimittels abgeklärt hat.

Im UVG werden die Kosten der in ALT und SL aufgeführten Arzneimittel übernommen.

Im IVG werden die Kosten der zur Behandlung der anerkannten Geburtsgebrechen ärztlich indizierten Arzneimittel bis zum vollendeten 20. Altersjahr übernommen. Ab jenem Zeitpunkt erfolgt die Kostenübernahme derselben Arzneimittel durch die OKP gemäss GGML.

Arzneimittel: Qualität, Wirksamkeit und Sicherheit

Die Entwicklung von Arzneimitteln stützt sich auf das Chemikalien- (ChemG), Heilmittel- (HMG SR 812.21) und Humanforschungsgesetz (HFG). Das HMG und die darauf basierenden Verordnungen regeln Registrierung, Vertrieb, Werbung, Verschreibung und Abgabe der Arzneimittel. Für Arzneimittel, die Betäubungsmittel oder psychotrope Substanzen enthalten, gelten gemäss Betäubungsmittelgesetz (BetmG) spezielle Bedingungen. Sie dürfen einzig von Ärzten verschrieben und verwendet werden, die eine kantonale Berufsausübungsbewilligung besitzen.

Swissmedic garantiert Qualität, Wirksamkeit und Sicherheit der in der Schweiz registrierten Arzneimittel. Seit den 1960er Jahren wird weltweit der Nachweis der Wirksamkeit neuer Arzneimittel einzig gegenüber Placebo oder Best Standard of Care, selten gegenüber einem schon registrierten ähnlich wirksamen Arzneimittel („Head-Head-Studie“) verlangt. Swissmedic verfügt bei der Registrierung eine Abgabekategorie und genehmigt die Fachinformation (Art. 13 und Anhang 4 AMZV). Die Fachinformation nennt bei vielen Arzneimitteln neben der Indikation auch Anforderungen (u.a. spezielle Fachkompetenz der Ärzte), die bei der Abgabe erfüllt werden müssen. Die Arzneimittel werden in Kategorien mit oder ohne Verschreibungspflicht eingeteilt (Art.23 HMG). Die Fachinformation ist integraler Bestandteil der Registrierung. Die Arzneimittel sind gemäss deren Inhalt anzuwenden. Die Preisbildung ist im Prinzip Sache der Produzenten und Importeure.

Arzneimittel und KVG

Über das KVG wird der gesamten Bevölkerung der Zugang zu den wesentlichen Arzneimitteln sichergestellt. Die OKP deckt die Kosten bei Mutterschaft, Krankheit und Unfall sowie Geburtsgebrechen, die nicht durch die Invalidenversicherung gedeckt sind (Art. 3 ATSG). Die Versicherungsleistungen und demnach auch die Arzneimittel müssen wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sein (Art. 32 KVG). Die Bundesbehörden haben gemäss Art. 52 KVG die zu vergütenden Arzneimittel aufzulisten und deren Preis festzulegen. Zuständig sind das EDI resp. das BAG.

Das EDI erstellt die Arzneimittelliste mit Tarif (ALT), um Vergütung und Preis der nicht industriell hergestellten Arzneimittel festzuhalten (Art. 52 KVG, Art. 63 KVV). Die ALT enthält die in der Rezeptur verwendeten Präparate, Wirk- und Hilfsstoffe mit entsprechenden Tarifen. Diese Tarife umfassen auch die Leistungen der Apotheker.

Spezialitätenliste (SL)

Das BAG erstellt die Spezialitätenliste (SL), die laufend aktualisiert wird. Sie umfasst rund 2500 Arzneimittel. In der SL werden die industriell hergestellten „Pharmazeutischen Spezialitäten“ und konfektionierten Arzneimittel in vier Listen aufgeführt:

  1. Spezialitäten der Schulmedizin: Liste der Originalpräparate. Sie enthält die von einer Herstellerin aufgrund eigener Forschung entwickelten verwendungsfertigen Arzneimittel, deren Wirkstoff oder Darreichungsform als erste durch Swissmedic registriert wurde. Die Wirksamkeit muss sich auf klinisch kontrollierte Studien abstützen (Art. 65a KVV).
  2. Spezialitäten der Komplementärmedizin: Die Wirksamkeit ist oft nicht nach allopathischen Grundsätzen verifizierbar. Sie wird nach den entsprechenden komplementärmedizinischen Lehren beurteilt.
  3. Generikaliste: Liste verwendungsfertiger Arzneimittel, die sich bezüglich ihres Wirkstoffes, ihrer Darreichungsform und ihrer Dosierung an ein durch Swissmedic registriertes Originalpräparat anlehnen.
  4. Geburtsgebrechen-Medikamentenliste (GGML): Liste durch die OKP zu bezahlender Arzneimittel, die den Versicherten der Invalidenversicherung (IV) ihres Geburtsgebrechens wegen bis zum 20. Altersjahr vergütet wurden und welche die Versicherten ab diesem Zeitpunkt weiterhin benötigen.

In die SL werden einzig von Swissmedic registrierte Arzneimittel aufgenommen. Das BAG prüft vorgängig der Aufnahme die Arzneimittel auf Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit sowie deren Bedarf in der ambulanten Behandlung. Grundsätzlich können die auf der SL aufgeführten Arzneimittel von allen Ärzten unter Beachtung der Fachinformation zulasten der OKP angewandt werden.

Das BAG kann die Anwendung der Arzneimittel, um den WZW-Kriterien besser Rechnung zu tragen, limitieren (Art. 73 KVV). Diese Arzneimittel sind in der SL entsprechend bezeichnet (L = Limitatio). Die Limitierung kann in der Beschränkung der Anzahl Packungen total oder pro Zeiteinheit, auf im Vergleich zur Fachinformation eingeschränkte Indikationen oder Patientengruppen bestehen oder die Genehmigung durch den Versicherer nach Konsultation des Vertrauensarztes vorgängig der Verschreibung bzw. Anwendung oder die Führung eines Registers über die Anwendung des Arzneimittels verlangen.

Die SL enthält die massgebenden Höchstpreise, die aus dem Fabrikabgabepreis und dem Vertriebsanteil bestehen (Art. 67 KVV).

Anwendung von Arzneimitteln durch Chiropraktoren

Die OKP übernimmt die Kosten einer umschriebenen Gruppe von Arzneimitteln der SL, die von Chiropraktoren zur Behandlung muskuloskelettaler Beschwerden verordnet werden. Es handelt sich um antipyretische Analgetika, perorale Myotonolytika, einfache entzündungshemmende allopathische und komplementärmedizinische Mittel, Mineralia und Protonenpumperhemmer in den Abgabekategorien B, C und D (Art. 4 Bst. b KLV).

Anwendung registrierter Arzneimittel ausserhalb der Vorgaben der Fachinformation oder der SL sowie nichtgelisteter und nichtregistrierter Arzneimittel

In Ausnahmefällen (Art. 71a, Art. 71 b, Art. 71c und Art. 71d KVV) können die Versicherer die Kosten der Anwendung folgender Arzneimittel nach Beratung durch den Vertrauensarzt übernehmen:

  1. Anwendung auf der SL gelisteter Arzneimittel ausserhalb der Limitatio (Off-Limitatio-Use)
  2. Anwendung auf der SL gelisteter Arzneimittel ausserhalb der Fachinformation (v.a. andere Indikation, andere Zielgruppe: Off-Label-Use/OLU)
  3. Anwendung nicht auf der SL gelisteter registrierter Arzneimittel (Hors-Liste-Arzneimittel)
  4. Anwendung nicht auf der SL gelisteter registrierter Arzneimittel ausserhalb der Fachinformation (OLU eines Hors-Liste-Arzneimittels)
  5. Anwendung nicht registrierter Arzneimittel aus Ländern, deren Registrierungsbestimmungen von der Schweiz als gleichwertig anerkannt werden (USA, Kanada, Mitglied der EU, Japan). Die Anwendung erfolgt gemäss der jeweiligen Fachinformation (Unlicensed-Use)

Off-Label-Use ist verbreitet in der Pädiatrie, da nur wenige Studien bei dieser Altersgruppe durchgeführt werden. Meistens kann dieser OLU aufgrund der breiten klinischen Erfahrung begründet werden und ist unbestritten. Wiederholt erfolgt im Alltag OLU in anderen Gruppen (Grundversorgung, Psychiatrie, Neurologie, Geriatrie), der ebenfalls – oft trotz fehlender medizinisch-wissenschaftlicher Daten – meistens unbestritten ist. In der Onkologie ist OLU von Arzneimitteln neuer, nicht oder noch nicht registrierter Indikationen wegen sehr häufig. Dieser OLU ist oft bestritten, da mehrheitlich einzig Daten zu Surrogatendpunkten vorliegen, die eine Beurteilung der wichtigsten Parameter der onkologischen Therapie, der Qualität und Überlebensdauer, sowie der Toxizität der Arzneimittel kaum erlauben. In weniger als einem Viertel der Fälle besteht eine starke Korrelation zwischen den Surrogatendpunkten und der Dauer und der Qualität des Überlebens nach Anwendung der untersuchten Arzneimittel (JAMA Intern Med 2015;175:1389-95).

Unlicensed-Use erfolgt vor allem bei der Behandlung seltener Krankheiten (Orphan resp. Rare Diseases) (siehe auch Kapitel "personalisierte Medizin) und maligner hämatologischer resp. Tumorerkrankungen. Während für Orphan Diseases wegen deren Seltenheit meistens die zur Registrierung erforderlichen Studien nicht durchgeführt werden können, wird in der Onkologie von Seiten der Industrie und der Erkrankten unter dem Stichwort „Innovation“ die Anwendung bei geringer, oft wissenschaftlich ungenügender Datenlage gefordert. Wie bei OLU liegen oft einzig Surrogatendpunkte vor. Über den 21st Century Cures Act (Link) werden in nächster Zeit durch die US-Amerikanische Registrierungsbehörde FDA viele Arzneimittel, vor allem in der Onkologie, mit unsicherer Datenlage beschleunigt registriert werden, sofern eine positive Beeinflussung schwerer oder lebensbedrohender Erkrankungen („therapeutischer Durchbruch“) aufgezeigt werden kann. Der abschliessende wissenschaftliche Nachweis der Wirkung und der Zweckmässigkeit soll erst später geliefert werden. Dies setzt bei allen Arzneimittelanwendungen eine prospektive komprehensive Erfassung bestimmter Kriterien zu Wirksamkeit und Toxizität sowie zur Lebensqualität voraus.

Arzneimitteleinsatz im Einzelfall – Art. 71a - Art. 71d KVV

Die Schweizer Krankenversicherer erhalten jährlich rund 16‘000 Gesuche (= 2/1000 Versicherte) für den Einsatz von Arzneimitteln im OLU oder Unlicensed Use. In zwei Dritteln der Gesuche werden die Kosten der Arzneimittel von den Versicherern direkt übernommen. In knapp einem Drittel der Fälle erfolgt die Kostenübernahme der Therapie oder deren Fortsetzung erst nach klinischem Ansprechen. Es handelt sich dabei sensu stricto um einen nicht KVG-konformen Prozess der Ermittlung der Wirksamkeit und Zweckmässigkeit, die ex ante erfolgen sollen. In nur 4% erfolgt eine Ablehnung wegen fehlenden wissenschaftlichen Nachweises der Wirkung oder Zweckmässigkeit.

Die Kostenerstattungsgesuche werden durch den Vertrauensarzt medizinisch beurteilt: besteht keine andere Therapiemöglichkeit, sind die vorhandenen Mittel (Arzneimittel auf SL, Rezeptur nach ALT) ausgeschöpft, besteht ein potentieller therapeutischer Nutzen und ist die Anwendung des Arzneimittels zweckmässig? Der Vertrauensarzt wendet dazu eines, gelegentlich beide Modelle zur Nutzenbewertung an. Zur Nutzenbeurteilung, die explizit „ex ante“ zu erfolgen hat, sollen grundsätzlich publizierte Studien mit definierter Struktur und Umfang der Daten angewandt werden (siehe auch „Studien zur Nutzenbewertung bei OLU“). Der Vertrauensarzt teilt seine medizinische Beurteilung dem Versicherer mit.

Die Nutzenbewertung von OLU bei Orphan Diseases, die im Kindesalter oder als Spätform im Erwachsenenalter in weniger als fünf Fällen pro 10‘000 Einwohner auftreten, bietet Schwierigkeiten, da in den seltensten Fällen auf publizierte Studien zurückgegriffen werden kann. Es sollten mindestens Zwischenergebnisse klinischer Studien vorliegen, die darauf hinweisen, dass ein grosser therapeutischer Nutzen zu erwarten ist. Siehe auch Exkurs: Die WZW-Kriterien beim off-label-use eines Arzneimittels bei orphan diseases.

Arzneimittel und UVG

Im UVG werden die Kosten der auf der ALT und SL aufgeführteen Arzneimittel übernommen (Art. 71 UVV).

Arzneimittel und VVG

Die Kostenübernahme von Arzneimitteln wird im VVG vertraglich in den einzelnen Versicherungsprodukten geregelt. Die Anwendung von Arzneimitteln aus ALT und SL ist bei korrekter Indikationsstellung unbestritten.

Zur Orientierung über die Kostenübernahme nicht auf der SL gelisteter Arzneimittel wird vierteljährlich eine Liste pharmazeutischer Präparate mit spezieller Verwendung (LPPV) erstellt. Es handelt sich um eine unverbindliche Liste registrierter Arzneimittel bestimmter therapeutischer Gruppen sowie allgemeiner Produktegruppen, die nicht ausschliesslich der Heilanwendung dienen. Die Übernahme der Kosten der auf der LPPV gelisteten Arzneimittel wird in vielen Versicherungsprodukten ausgeschlossen.

Arzneimittel und IVG

Es werden bis zum vollendeten 20. Altersjahr die Kosten der ärztlich verordneten Arzneimittel zur Behandlung von Geburtsgebrechen (Art. 1 GgV) übernommen (Art. 13 und 14 IVG). Es besteht keine Arzneimittelliste. Die auf der SL aufgeführten Arzneimittel erfüllen die Anforderungen betreffend wissenschaftlicher Erkenntnis und Zweckmässigkeit gemäss Art. 4bis IVV. Bei Geburtsgebrechen, die nicht durch die IV gedeckt sind, übernimmt die OKP die Kosten für die gleichen Leistungen wie bei Krankheit (Art. 27 KVG).

Ab vollendetem 20. Altersjahr werden die Kosten der bislang durch die IV bezahlten Arzneimittel durch die OKP übernommen. Diese Arzneimittel sind im Prinzip auf der GGML gelistet.

Februar 2017
Dr. med. Max Giger

Schweizerische Gesellschaft der Vertrauens- und Versicherungsärzte

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