Schweizerische Gesellschaft der Vertrauens- und Versicherungsärzte

SGV Manual

Off label use: was sagt die Rechtsprechung zum grossen therapeutischen Nutzen?

Autor: Dr. iur. M.A. Hans-Jakob Mosimann

Juni 2020 / Update September 2021/November 2022/November 2023

Reviewer: Dr. med. Ursula Schafroth

Allgemeines

Für die Kostenübernahme eines in der SL gelisteten Arzneimittels ausserhalb der Fachinformation oder Limitierung wird unter anderem verlangt, dass von seinem Einsatz ein «grosser therapeutischer Nutzen» erwartet wird (Art. 71a Abs. 1 lit. b KVV). Gleiches gilt für nicht in der SL gelistete Arzneimittel (Art. 71b KVV) und für nicht zugelassene importierte Arzneimittel (Art. 71c KVV). 

Wie beurteilt das Bundesgericht den grossen therapeutischen Nutzen?

Der grosse therapeutische Nutzen muss allgemein und im Einzelfall nachgewiesen sein (BGE 142 V 395 E. 2.3.2.2). Das gilt auch bei vorhandener Orphan-Drug-Zulassung (BGE 136 V 395 E. 6.4 und 6.5). 

Die vereinfachte heilmittelrechtliche Zulassung durch Swissmedic belegt noch keinen hohen therapeutischen Nutzen im Sinne der KVV (BGE 136 V 395 E. 5.3). 

Der Nachweis eines grossen therapeutischen Nutzens ist zu erbringen mittels 

  • publizierter klinischer Studien, die mindestens in Form von Zwischenergebnissen einen entsprechenden Schluss zulassen, oder
  • anderweitiger veröffentlichter wissenschaftlicher Erkenntnisse

Offengelassen hat das Bundesgericht, ob bei fehlenden wissenschaftlichen Erkenntnissen ärztliche Auskünfte für den Nachweis genügen. Im konkreten, vom Bundesgericht beurteilten Fall genügten die ärztlichen Stellungnahmen dafür nicht. Sie stammten vom langjährigen Behandler, von einem im Laufe des Gerichtsverfahrens vom Versicherten konsultativ beigezogenen Facharzt und aus einem vor mehr als zehn Jahren erstatteten Gutachten; zudem verneinten andere fachkompetente Ärzte einen grossen therapeutischen Nutzen (BGE 142 V 325 E. 4.4.1).

Nicht ausreichend ist eine Einzelfallbeurteilung, wonach das fragliche Präparat Wirkung gezeigt habe.

Welche Beispiele gibt es?

In folgenden Fällen (chronologisch geordnet) hat die Rechtsprechung den grossen therapeutischer Nutzen verneint:

  • Myozyme bei Morbus Pompe (BGE 136 V 395)
  • Remicade/Infliximab bei Colitis ulcerosa (BGer 9C_550/2011)
  • Ritalin bei paranoider Schizophrenie (BGer 9C_785/2011)
  • Ritalin bei Borderline-Störung / ADHS (ZH KV.2011.0004)
  • Samsca/Tolvaptan bei Hyponatriämie (ZH KV.2011.00019)
  • Synagis im 2. Lebensjahr bei mehreren Geburtsgebrechen (BGer 8C_523/2016)
  • Ebixa/Memantin bei psychotischer Störung (ZH KV.2016.00037)
  • Xalkori/Crizotinib bei Adenokarzinom (ZH KV.2016.00070)
  • Dormicum/Midazolam bei Methadon-Substitution (GE ATAS/260/2017)
  • Canabis-Öl bei rheumatoider Arthritis (9C_338/2021)

In folgenden Fällen (chronologisch geordnet) hat die Rechtsprechung den grossen therapeutischen Nutzen bejaht:

  • Taxotere + Paraplatin bei Adenokarzinom (BGE 130 V 532)
  • Soliris/Eculizumabum bei paroxysmaler nächtlicher Hämoglobinurie (BGE 139 V 375)
  • autologe Serumaugentropfen bei Lyell-Syndrom (BGE 144 V 333)
  • Imbruvica/Ibrutinib bei ZNS-Lymphom (ZH KV.2018.00057)
  • Velcade/Bortezomid bei multiplem Myelom (ZH KV.2018.00083)
  • Kombination Darzalex/Revlimid / Dexamethason bei multiplem Myelom (ZH KV.2019.00040). Das Bundesgericht hat zwar die Sache an den Krankenversicherer zurückgewiesen, dies aber wegen Unklarheiten bezüglich der Preisfestsetzung. Zu den kantonalen Erwägungen zum grossen therapeutischen Nutzen hat es sich gar nicht geäussert, diese also zumindest stillschweigend gebilligt (BGE 146 V 240).
  • primäre Erstlinienbehandlung und anschliessende Erhaltungstherapie (max. 2 Jahre) mit Rituximab bei follikulärem Lymphom (ZH KV.2020.00031)

Weitere Fälle: Betreffend Sumatriptan Imigran bei cluster headache wies das Bundesgericht die Sache zu weiterer Abklärung zurück (BGE 142 V 325).

Betreffend SCENESSE bei erythropoetischer Protoporphyrie (EPP) bejahte das Bundesgericht den grossen therapeutischen Nutzen im Allgemeinen und wies die Sache zur Abklärung im Einzelfall zurück (BGE 143 V 130 = Pra 2017 Nr. 106).

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