Schweizerische Gesellschaft der Vertrauens- und Versicherungsärzte

SGV Manual

Was bedeuten Untersuchungsgrundsatz und Beweislast?

Autor: Dr. jur. Hans-Jakob Mosimann

November 2021/reviewed November 2022/November 2023

Reviewer: Dr. med. Ursula Schafroth

Allgemeines: Verfahrensgrundsätze

Für das Verständnis der Verfahren von Behörden und Gerichten sind sogenannte Verfahrensgrundsätze, auch Prozess- oder Verfahrensprinzipien oder -maximen genannt, entwickelt worden, um im Sinne von Leitlinien die typischen Merkmale von gesetzlich geregelten Verfahrensarten aufzuzeigen. Zentral sind dabei die folgenden zwei Gegensatzpaare:

  • Offizialmaxime – Dispositionsmaxime
  • Untersuchungsmaxime – Verhandlungsmaxime

Beim ersten Gegensatzpaar geht es darum, wer den Beginn, den Gegenstand und das Ende des Verfahrens bestimmt. Unter der Offizialmaxime ist es die Behörde, unter der Dispositionsmaxime hingegen die Privatperson. Im Sozialversicherungsrecht beziehungsweise der OKP spielt die Dispositionsmaxime, wenn versicherte Personen ein Leistungsbegehren stellen, und die Offizialmaxime dann, wenn die Behörde von sich aus tätig wird, beispielsweise im Hinblick auf unwirtschaftliche Behandlungen im Sinne von Art. 56 KVG.

Beim zweiten Gegensatzpaar geht es darum, wer für die Ermittlung des Sachverhalts zuständig ist. Unter der Untersuchungsmaxime ist es die Behörde, unter der Verhandlungsmaxime sind es die Parteien. Die Verhandlungsmaxime kommt nur in bestimmten Gerichtsverfahren zum Zug und bedeutet, dass das Gericht ausschliesslich auf die Sachverhaltselemente abstellt, die von den Prozessparteien eingebracht und bewiesen wurden. Das ist beispielsweise bei Gerichtsverfahren im Bereich der Taggeldversicherungen nach Versicherungsvertragsrecht der Fall.

Untersuchungsgrundsatz

Das sozialversicherungsrechtliche Verwaltungs- und Verwaltungsgerichtsbeschwerdeverfahren ist vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht (Untersuchungsmaxime). Danach haben Verwaltung und Sozialversicherungsgericht von sich aus für die richtige und vollständige Abklärung des Sachverhaltes zu sorgen (BGE 117 V 282 E. 4a).

Dies gilt im Bereich der OKP auch für den Krankenversicherer: Er «nimmt die notwendigen Abklärungen von Amtes wegen vor und holt die erforderlichen Auskünfte ein» (Art. 43 Abs. 1 ATSG). Kommt ein Fall vor Gericht, so stellt das Versicherungsgericht unter Mitwirkung der Parteien die für den Entscheid erheblichen Tatsachen fest und erhebt die notwendigen Beweise (Art. 61 lit. c ATSG).

Der Krankenversicherer (oder im Streitfall das Versicherungsgericht) kann somit nicht einfach mit der Feststellung, es liege keine Krankheit, sondern lediglich ein kosmetisches Problem vor, oder eines der WZW-Kriterien (vgl. BGE 145 V 116 E. 3.2) sei nicht erfüllt, seine Leistungspflicht verneinen. Er muss die von ihm in Frage gestellten Aspekte sachverhaltsmässig vollständig abklären, so etwa im Fall einer ausserkantonalen Hüftoperation, deren Zweckmässigkeit näher zu prüfen war (BGE 127 V 138), oder im Fall einer Gesichtsaknenarben-Behandlung mittels Skin-Resurfing (richtig wohl: Skin-Resurfacing), dessen (wissenschaftlich belegte) Wirksamkeit bestritten wurde (BGE 129 V 167). Gleiches gilt etwa bei einer im Ausland durchgeführten Phalloplastik für die Frage der Operationsfrequenz in der Schweiz (BGE 145 V 170 E. 8.3).

Die Verpflichtung des Versicherungsträgers, den Sachverhalt von Amtes wegen richtig und vollständig abzuklären (Untersuchungsgrundsatz), wird flankiert von der Mitwirkungspflicht der versicherten Person: Sie hat sich notwendigen und zumutbaren ärztlichen oder fachlichen Untersuchungen zu unterziehen (Art. 43 Abs. 2 ATSG). Die Mitwirkungspflicht gilt zumeist für solche Tatsachen, welche eine Partei besser kennt als die Behörden und welche diese ohne ihre Mitwirkung gar nicht oder nicht ohne vernünftigen Aufwand erheben könnte (BGE 128 II 139 E. 3b).

Beweisgrad und Beweislast

Im Sozialversicherungsrecht gilt in der Regel der Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit. Die blosse Möglichkeit eines bestimmten Sachverhalts genügt den Beweisanforderungen nicht. Es ist jener Sachverhaltsdarstellung zu folgen, die von allen möglichen Geschehensabläufen als die wahrscheinlichste erscheint (BGE 115 V 133 E. 8b). Ein häufiger Anwendungsfall ist die Frage, ob zwischen einem Unfallereignis und einem Gesundheitsschaden ein natürlicher Kausalzusammenhang besteht: Der Unfall muss mit überwiegender Wahrscheinlichkeit die Ursache (oder eine Teilursache) des Gesundheitsschadens sein. Ist er bloss eine mögliche Ursache, genügt dies nicht.

Erst wenn es sich als unmöglich erweist, im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes aufgrund einer Beweiswürdigung einen Sachverhalt zu ermitteln, der zumindest die Wahrscheinlichkeit für sich hat, der Wirklichkeit zu entsprechen («Beweislosigkeit»), fällt der Entscheid zu Ungunsten jener Partei aus, die aus dem unbewiesen gebliebenen Sachverhalt Rechte ableiten wollte (BGE 115 V 133 E. 8a).

In der Krankentaggeldversicherung nach Versicherungsvertragsrecht wirkt sich die Beweislast so aus, dass die versicherte Person das behauptete Andauern einer Arbeitsunfähigkeit beweisen muss, der Versicherer hingegen den behaupteten Wegfall der Versicherungsdeckung.

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