Schweizerische Gesellschaft der Vertrauens- und Versicherungsärzte

SGV Manual

Welche Rolle spielen die «Standardindikatoren»?

Autor: Dr. jur. Hans-Jakob Mosimann

November 2021/reviewed November 2023

Reviewer: Dr. med. Ursula Schafroth

Im Hinblick auf die Invaliditätsbemessung, vorab in der Invaliden- und der Unfallversicherung, ist nicht die Arbeitsfähigkeit und Arbeitsunfähigkeit in der angestammten Tätigkeit massgebend, sondern diejenige auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, also die Erwerbsfähigkeit und Erwerbsunfähigkeit. Um sie zu beurteilen, wird mitunter auf Gutachten abgestellt, insbesondere solche psychiatrischer Art. In diesem Bereich hat das Bundesgericht folgende, als «strukturiertes Beweisverfahren» (BGE 143 V 418 E. 4.1.2) bezeichnete Regeln festgelegt:

Es genügt nicht, dass im Gutachten vom diagnostizierten psychischen (z.B. depressiven) Geschehen direkt auf eine Arbeitsunfähigkeit, welchen Grades auch immer, geschlossen wird. Vielmehr ist darzulegen, dass, inwiefern und inwieweit wegen der erhobenen Befunde die beruflich-erwerbliche Arbeitsfähigkeit eingeschränkt ist, und zwar - zu Vergleichs-, Plausibilisierungs- und Kontrollzwecken - unter Miteinbezug der sonstigen persönlichen, familiären und sozialen Aktivitäten der versicherten Person. Orientiert sich die medizinisch-psychiatrische Folgenabschätzung dabei an den sogenannten Standardindikatoren, wird sie auch aus der juristischen Sicht der Rechtsanwendung Bestand haben. Andernfalls liegt ein triftiger Grund vor, der rechtlich ein Abweichen davon gebietet (BGE 145 V 361 E. 4.3).

Diese Standardindikatoren sind (BGE 141 V 281 E. 4.1.3):

Kategorie «funktioneller Schweregrad»

Komplex «Gesundheitsschädigung»

  • Ausprägung der diagnoserelevanten Befunde
  • Behandlungs- und Eingliederungserfolg oder -resistenz
  • Komorbiditäten

Komplex «Persönlichkeit» (Persönlichkeitsdiagnostik, persönliche Ressourcen)

Zum Standardindikator «Persönlichkeit» (Persönlichkeitsdiagnostik, persönliche Ressourcen) hat das Bundesgericht (in Erwägung 4.3.2 von BGE 141 V 281) ausgeführt, dass der Komplex der Persönlichkeit (Persönlichkeitsentwicklung und -struktur, grundlegende psychische Funktionen) mit dem stärkeren Einbezug der Ressourcenseite an Bedeutung gewinne. Neben den herkömmlichen Formen der Persönlichkeitsdiagnostik, die auf die Erfassung von Persönlichkeitsstruktur und -störungen abziele, falle auch das Konzept der sogenannten «komplexen Ich-Funktionen» in Betracht, die in der Persönlichkeit angelegte Fähigkeiten bezeichneten, welche Rückschlüsse auf das Leistungsvermögen zulassen (u.a. Selbst- und Fremdwahrnehmung, Realitätsprüfung und Urteilsbildung, Affektsteuerung und Impulskontrolle sowie Intentionalität). Da die Persönlichkeitsdiagnostik mehr als andere (z.B. symptom- und verhaltensbezogene) Indikatoren untersucherabhängig sei, bestünden hier besonders hohe Begründungsanforderungen.

Komplex «Sozialer Kontext»

Zum Standardindikator «sozialer Kontext» hat das Bundesgericht (in Erwägung 4.3.3 von BGE 141 V 281) ausgeführt, er entscheide mit darüber, wie sich die Auswirkungen der Gesundheitsbeeinträchtigung konkret manifestierten. Soweit soziale Belastungen direkt negative funktionelle Folgen zeitigten, blieben sie nach wie vor ausgeklammert. Anderseits halte der Lebenskontext der versicherten Person auch (mobilisierbare) Ressourcen bereit, so die Unterstützung, die ihr im sozialen Netzwerk zuteil werde. Immer sei sicherzustellen, dass gesundheitlich bedingte Erwerbsunfähigkeit zum einen und nicht versicherte Erwerbslosigkeit oder andere belastende Lebenslagen zum andern nicht ineinander aufgingen.

Das strukturierte Beweisverfahren anhand der Standardindikatoren verlegt «den Hauptfokus von der Diagnose auf die zu beweisenden funktionellen Einschränkungen mit Auswirkungen auf Aktivität und Partizipation. Der Einbezug der Persönlichkeit als zu beurteilendes Element ist deshalb wertvoll, weil nicht nur beachtet wird, welche Krankheit vorliegt, sondern auch, wen die Krankheit getroffen hat. Die vom Bundesgericht genannten Indikatoren sind medizinisch verständlich und beurteilbar, selbst wenn in der Anwendungspraxis ein Interpretationsspielraum bestehen bleibt.» (Dr. med. Jörg Jeger, BGE 148 V 49: Ist das Bundesgericht rückfällig geworden? in: Jusletter vom 10. Oktober 2022).

Kategorie «Konsistenz» (Gesichtspunkte des Verhaltens)

  • gleichmässige Einschränkung des Aktivitätenniveaus in allen vergleichbaren Lebensbereichen
  • behandlungs- und eingliederungsanamnestisch ausgewiesener Leidensdruck

Anhand dieser Indikatoren soll eine ergebnisoffene symmetrische Beurteilung des tatsächlich erreichbaren Leistungsvermögens erfolgen, dies «unter Berücksichtigung leistungshindernder äusserer Belastungsfaktoren einerseits und Kompensationspotentialen (Ressourcen) anderseits» (BGE 141 V 281 E. 3.6), die Arbeitsunfähigkeit also «gleichsam aus dem Saldo aller wesentlichen Belastungen und Ressourcen» abgeleitet werden (BGE 141 V 281 E. 3.4.2.1).

 

 

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