Update, 3. Auflage, November 09
Medizinische Gutachten markieren die Schnittstelle zwischen Medizin einerseits und Rechtsanwendung in der Versicherung und insbesondere der Sozialversicherung andererseits. Typischerweise werden sie in unklaren und deshalb möglicherweise strittigen Fällen veranlasst. Unklar ist in der Regel, welche gesundheitlichen Beeinträchtigungen welche Auswirkungen haben, und strittig ist, ob der versicherten Person Leistungen der Versicherung, allenfalls in welchem Umfang, zustehen. Zur Klärung und Entscheidung solcher Fälle soll das medizinische Gutachten verwertbare Grundlagen liefern.
Das Erstatten eines Gutachtens erfordert einen Perspektivenwechsel: An die Stelle des therapeutisch orientierten ärztlichen Bemühens um die Gesundheit des Patienten tritt das Bestreben, die gestellten Fragen neutral und wissenschaftlich objektiviert zu beantworten. Die vermuteten Interessen des Auftraggebers sind dafür ebenso irrelevant wie jene der zu begutachtenden Person. Massgebend ist einzig der Auftrag, den Gesundheitszustand fachgerecht abzuklären und medizinisch zu beurteilen.
Die folgenden Ausführungen lassen sich auch auf medizinische Berichte übertragen, die nicht das Format eines eigentlichen Gutachtens haben, denn die Gerichtspraxis kennt keine a-priori-Hierarchie unter den medizinischen Stellungnahmen. Vielmehr wird im Rahmen der freien Beweiswürdigung jede medizinische Beurteilung mittels des gleichen Kriterienkatalogs (siehe dazu Abschnitt x.6) überprüft. Immerhin hat das EVG für diese freie Beweiswürdigung die folgenden Leitlinien entwickelt1: Von den in Gerichtsgutachten geäusserten Einschätzungen weicht das Gericht nicht ohne zwingende Gründe ab; ein Grund zum Abweichen kann vorliegen, wenn das Gerichtsgutachten widersprüchlich ist oder ein weiteres Gerichtsgutachten zu überzeugenden anderen Schlussfolgerungen gelangt. Vom Unfallversicherer eingeholte externe Gutachten haben volle Beweiskraft, solange nicht konkrete Indizien gegen ihre Zuverlässigkeit sprechen. Versicherungsinterne Berichte und Gutachten haben Beweiskraft, sofern sie als schlüssig erscheinen, nachvollziehbar begründet und in sich widerspruchsfrei sind und keine Indizien gegen ihre Zuverlässigkeit bestehen. An die Unparteilichkeit des Gutachters ist ein strenger Massstab anzulegen. Bei Berichten von Hausärzten2 darf und soll das Gericht der Erfahrungstatsache Rechnung tragen, dass diese mitunter im Hinblick auf ihre auftragsrechtliche Vertrauensstellung in Zweifelsfällen eher zu Gunsten ihrer Patienten aussagen. Der Umstand allein, dass eine Partei eine ärztliche Stellungnahme eingeholt und in das Verfahren eingebracht hat, rechtfertigt nicht schon Zweifel an deren Beweiswert3.
Um der Rechtsanwendung die nötigen Entscheidungsgrundlagen zu liefern, soll das Gutachten Angaben zu folgenden Aspekten enthalten4:
An der Schnittstelle zwischen Medizin und Rechtsanwendung ist es von Bedeutung, die nachstehend erläuterten rechtlichen Begriffe und rechtlichen Besonderheiten aufzunehmen, dies vor allem unter dem Aspekt, welchen Bezug sie zur medizinischen Beurteilung haben.
Gemäss Art. 6 Satz 1 ATSG ist Arbeitsunfähigkeit „die durch eine Beeinträchtigung der körperlichen geistigen oder psychischen Gesundheit bedingte, volle oder teilweise Unfähigkeit, im bisherigen Beruf oder Aufgabenbereich zumutbare Arbeit zu leisten“. Arbeitsunfähigkeit und - komplementär - Arbeitsfähigkeit bezieht sich auf die angestammte Tätigkeit der versicherten Person. Somit bezeichnet der Grad der Arbeitsunfähigkeit das Ausmass der leidensbedingten Einschränkung in der bisherigen, aktuell ausgeübten Tätigkeit.
Die ärztliche Beurteilung der Arbeitsfähigkeit und das Festlegen einer Arbeitsunfähigkeit ist in der Regel eine Momentaufnahme und kann als Prozentzahl ausgedrückt werden, sofern eindeutig feststeht, welcher Einsatz 100 % entsprechen würde. Gegebenfalls ist zwischen voller Präsenzzeit und verminderter Leistungsfähigkeit zu unterscheiden oder es sind Schonkriterien anzugeben.
Eine attestierte Arbeitsunfähigkeit kann zum Beispiel für den Taggeldanspruch in verschiedenen Zweigen der Sozialversicherung oder für den Rentenbeginn in der Invalidenversicherung von rechtlicher Bedeutung sein.
Gemäss Art. 7 ATSG ist Erwerbsunfähigkeit „der durch Beeinträchtigung der körperlichen geistigen oder psychischenGesundheit verursachte und nach zumutbarer Behandlung und Eingliederung verbleibende ganze oder teilweise Verlust der Erwerbsmöglichkeiten auf dem in Betracht kommenden ausgeglichenen Arbeitsmarkt“.
Der theoretische und abstrakte Begriff des ausgeglichenen Arbeitsmarktes dient dazu, den Leistungsbereich der Invalidenversicherung von jenem der Arbeitslosenversicherung abzugrenzen. Die Bezugnahme auf den ausgeglichenen Arbeitsmarkt und auf - nebst der Behandlung - die zumutbare Eingliederung zeigen deutlich, dass die Erwerbsfähigkeit keine medizinische Kategorie darstellt. Vom medizinischen Gutachten werden deshalb keine Prozentangaben zur Erwerbsfähigkeit erwartet, sondern solche zur zumutbaren Leistungsfähigkeit (siehe Abschnitt 33.4).
Gemäss Art. 8 ATSG ist Invalidität „die voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde ganze oder teilweise Erwerbsunfähigkeit“. Gemäss Art. 16 ATSG wird für die Bestimmung des Invaliditätsgrades „das Erwerbseinkommen, das die versicherte Person nach Eintritt der Invalidität und nach Durchführung der medizinischen Behandlung und allfälliger Eingliederungsmassnahmen durch eine ihr zumutbare Tätigkeit bei ausgeglichener Arbeitsmarktslage erzielen könnte, in Beziehung gesetzt zum Erwerbseinkommen, das sie erzielen könnte, wenn sie nicht invalid geworden wäre“.
Der Invaliditätsgrad wird also ermittelt, indem das je hypothetische sogenannte Validen- und Invalideneinkommen miteinander verglichen werden, wobei beim Invalideneinkommen auf das in leidensangepasster Tätigkeit zumutbarerweise erzielbare Einkommen abgestellt wird. Die medizinische Beurteilung liefert die Grundlage, um den Kreis der zumutbarerweise in Frage kommenden Tätigkeiten und die zugehörige Leistungsfähigkeit zu bestimmen. Die finanziell-erwerbliche Verarbeitung der medizinischen Angaben ist Sache der Rechtsanwendung und der so ermittelte Invaliditätsgrad steht in keiner direkten Relation zu irgendwelchen medizinischen Prozentangaben. Invalidität und Invaliditätsgrad sind ausgesprochen juristische und versicherungsspezifische Grössen; es ist deshalb nicht möglich, medizinische Aussagen über den Grad der Invalidität oder gar den Umfang eines Rentenanspruchs zu machen.
Alter, mangelnde Ausbildung oder Verständigungsschwierigkeiten sind Faktoren, die bei der ganzheitlichen medizinischen Betrachtung im Sinne des bio-psycho-sozialen Modells eine Rolle spielen. Rechtlich handelt es sich dabei jedoch um sogenannt invaliditätsfremde Gründe, welche dementsprechend ausser Betracht bleiben5.
Auch soziokulturelle Umstände stellen keine zu Erwerbsunfähigkeit führende Gesundheitsschäden dar: „Es braucht in jedem Fall zur Annahme einer Invalidität ein medizinisches Substrat, das (fach)ärztlicherseits schlüssig festgestellt wird und nachgewiesenermassen die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit wesentlich beeinträchtigt. Je stärker psychosoziale oder soziokulturelle Faktoren im Einzelfall in den Vordergrund treten und das Beschwerdebild mitbestimmen, desto ausgeprägter muss eine fachärztlich festgestellte psychische Störung von Krankheitswert vorhanden sein. Das bedeutet, dass das klinische Beschwerdebild nicht einzig in Beeinträchtigungen, welche von den belastenden soziokulturellen Faktoren herrühren, bestehen darf, sondern davon psychiatrisch zu unterscheidende Befunde zu umfassen hat (...). Wo der Gutachter dagegen im wesentlichen nur Befunde erhebt, welche in den psychosozialen und soziokulturellen Umständen ihre hinreichende Erklärung finden, gleichsam in ihnen aufgehen, ist kein invalidisierender psychischer Gesundheitsschaden gegeben“6.
Alkohol- und Drogensucht gilt als Krankheit. Im Rahmen der Invalidenversicherung jedoch begründet das Suchtgeschehen für sich allein betrachtet keine Invalidität. Eine Sucht wird nur relevant, wenn sie eine Krankheit oder einen Unfall bewirkt hat, in deren Folge ein körperlicher oder geistiger Gesundheitsschaden eingetreten ist, oder aber wenn sie selber Folge eines körperlichen oder geistigen Gesundheitsschadens ist, dem Krankheitswert zukommt7.
Im Bereich der Unfallversicherung ist die ärztliche Stellungnahme zur Frage der Kausalität bestimmter Leiden oft von Bedeutung. Dabei ist zwischen dem natürlichen und dem adäquaten Kausalzusammenhang zu unterscheiden.
Die Beurteilung der natürlichen Kausalität (also die Frage, ob ein Ereignis im Rahmen einer unendlichen Ursachenkette eine conditio sine qua non für den Eintritt des Schadens darstellt) ist eine Tatfrage, die als solche von der Medizin zu beantworten ist, wobei zwar nicht naturwissenschaftliche Sicherheit gefordert ist, aber immerhin der Beweisgrad der „überwiegenden Wahrscheinlichkeit“.
Ob ein als erstellt betrachteter natürlicher Kausalzusammenhang auch adäquat (nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und nach der allgemeinen Lebenserfahrung zur Herbeiführung des eingetretenen Erfolgs an sich geeignet) ist, ist dagegen eine Rechtsfrage und vom Gericht zu beurteilen, weil damit, nach praktischer Vernunft, Ermessen und Erfahrung eine vernünftige Begrenzung der Haftung erreicht werden soll. „Adäquanz“ ist in diesem Zusammenhang eine ausschliesslich juristische Grösse und sollte deshalb in medizinischen Ausführungen als Begriff keine Verwendung finden. Die juristische Prüfung der Adäquanz bei psychischen Unfallfolgen und in einigen weiteren Fällen folgt überdies speziellen Kriterien.
Von Bedeutung ist bei Gutachten im Zusammenhang mit Unfällen regelmässig der Unfall-hergang. Es soll deshalb ausgeführt werden, von welchem Ereignisablauf - aufgrund der Vorakten oder der Schilderungen der zu begutachtenden Person - im Gutachten ausgegangen wurde.
Von zentraler Bedeutung ist in der Regel die gutachterliche Antwort auf die Frage, welche Tätigkeiten in welchem Umfang und unter Beachtung welcher Randbedingungen der versicherten Person aufgrund der bestehenden Leiden als zumutbar erscheinen. In Anlehnung an die International Classification of Function (ICF) soll bestimmt werden, welche Schädigungen welche Aktivitäten beeinträchtigen oder noch zulassen, und wie diese in der Erwerbsarbeit oder im Aufgabenbereich (Haushalt) verwertet werden können (Partizipation). Das Gutachten soll aus medizinischer Sicht angeben, was die versicherte Person unter welchen Umständen nicht mehr leisten oder eben noch leisten kann. Dafür gibt es verschiedene Parameter:
Erschwert das Beschwerdebild, etwa wegen zunehmender Belastung im Tagesverlauf, einen ganztägigen Einsatz, so ist das zumutbare Mass in Stunden pro Tag anzugeben. Mit Blick auf arbeitsorganisatorische Restriktionen sollten hier auch Alternativen erwogen werden wie etwa ein ganztägiger Einsatz mit einem Pausentag in der Wochenmitte (ganztags, aber nur 4 Tage pro Woche) oder Ausfall von durchschnittlich x Tagen pro Monat (bzw. 20 Arbeitstage).
Die Gerichtspraxis würdigt medizinische Gutachten, aber auch andere medizinische Beurteilungen, anhand des folgenden Kriterienkatalogs12: Hinsichtlich des Beweiswertes eines Arztberichtes ist entscheidend,
Ferner soll der Experte nicht auszuräumende Unsicherheiten und Unklarheiten, welche ihm die Beantwortung der Fragen erschweren oder verunmöglichen, gegebenenfalls deutlich machen (g).
Kriterium (a) ist primär für den Auftraggeber wichtig, indem jene medizinischen Dis-ziplinen einbezogen werden, deren Beitrag zur Klärung der offenen Fragen erforderlich ist. Allenfalls ist aber auch im Gutachten auf entsprechenden Ergänzungsbedarf hinzuweisen, womit gleichzeitig das Kriterium (g) angesprochen ist.
In Beachtung von Kriterium (b) sollen Gutachter die erforderlichen klinischen und technisch-apparativen Untersuchungen vornehmen oder veranlassen, deren Ergebnisse wiedergeben und in die Beurteilung einbeziehen.
Mit Kriterium (c) und (d) wird verdeutlicht, dass sich das Gutachten konkret und spezifisch mit dem Gesundheitszustand der individuellen zu begutachtenden Person auseinandersetzen muss und sich nicht auf theoretische, etwa epidemiologische Darlegungen, beschränken darf.
Die Kriterien (e) und (f) treffen den Kerngehalt der Kommunikation an der Schnittstelle von Medizin und Rechtsanwendung: Mediziner sollen fachlich korrekt und gleichzeitig für Dritte nachvollziehbar Stellung nehmen. Dabei dürfen sie eine jedenfalls minimale Vertrautheit der Adressaten des Gutachtens mit ihrer Terminologie durchaus voraussetzen. Sie sollen klar unterscheiden zwischen Angaben der zu begutachtenden Person, solchen von dritter Seite, erhobenen Befunden, gestellten Diagnosen und schliesslich der - interpretierenden und wertenden - eigenen Beurteilung dieses Materials. Die Qualität der Begründung zeigt sich vor allem darin, dass sie nicht sozusagen isoliert im Raum steht, sondern in engem Bezug zu den dargelegten Fakten steht und durch diese gestützt und untermauert wird.
Das Gutachten als kommunikative Schnittstelle zwischen Medizin und Rechtsanwendung ist anfällig auf Störgeräusche. Deshalb sei abschliessend auf einige Punkte hingewiesen, die erfahrungsgemäss immer wieder zu Missverständnissen Anlass geben können:
1 | BGE 125 V 352 ff. Erw. 3b |
2 | Das EVG braucht diesen Ausdruck. Gemeint sind aber generell die behandelnden Ärzte. |
3 | BGE 125 V 353 Erw. 3b/dd |
4 | vgl. BGE 125 V 352 Erw. 3a |
5 | vgl. BGE 107 V 21 Erw. 2c |
6 | BGE 127 V 299 Erw. 5a |
7 | vgl. BGE 99 V 28 Erw. 2 |
8 | vgl. BGE 130 V 402 f. Erw. 6.3 |
9 | vgl. BGE 127 V 298 Erw. 4c |
10 | vgl. BGE 130 V 353 ff. Erw. 2.2.3 |
11 | vgl. BGE 130 V 398 f. Erw. 5.3.2 |
12 | vgl. BGE 122 V 160 Erw. 1c |
13 | sinngemäss: nach einem bestimmten Ereignis, also auch wegen diesem Ereignis |
14 | BGE 115 V 133 |
15 | BGE 117 V 264 Erw. 3b |
16 | BGE 115 V 142 Erw. 8a |
Schweizerische Gesellschaft der Vertrauens- und Versicherungsärzte
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