Schweizerische Gesellschaft der Vertrauens- und Versicherungsärzte

Umschriebene Entwicklungsstörung motorischer Funktionen (UEMF) – Developmental Coordination Disorder (DCD) - ICD 10 – F82

International clinical practice recommendations on thedefinition, diagnosis, assessment, intervention, and psychosocialaspects of developmental coordination disorder

UEMF ist eine chronische Störung mit einer Prävalenz von 5-6%. Es besteht eine deutliche Beeinträchtigung der motorischen Koordination, die nicht durch eine Einschränkung der Intelligenz oder andere angeborene oder erworbene neurologische Störungen erklärt werden kann. Es lassen sich entwicklungsneurologische Unreifezeichen und Zeichen einer mangelhaften fein- oder grobmotorischen Koordination finden. Es bestehen Schwierigkeiten im motorischen Lernen, insbesondere bei der antizipatorischen Planung und beim Lernen durch Beobachtung, zudem bestehen Schwierigkeiten in der Automatisierung von Bewegungsabläufen, Feedbackprozesse sind verlangsamt und Kompensationsstrategien sind nur eingeschränkt vorhanden. Die funktionelle Performanz bei Aktivitäten des täglichen Lebens ist beeinträchtigt. Die Kinder sind auf Strukturierung und Unterstützung bei alltäglichen Aktivitäten angewiesen. Es ist eine Störung mit häufiger Komorbidität und beträchtlichen Konsequenzen für das tägliche Leben. Die Störung setzt sich in die Adoleszenz fort, sodass 50 -70% der Jugendlichen motorische Schwierigkeiten aufweisen. Im Erwachsenenalter zeigt sich die Störung vor allem bei der Bewältigung neuer motorischer Aufgabenstellungen, wie z.B. dem Autofahren.

Als Komorbiditäten liegen häufig Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen – ADHS (50% oder höher), spezifische Sprachentwicklungsstörungen (30-70%), Lernbehinderungen, Lese-Rechtschreibstörungen und Autismus-Spektrum-Störungen (10%) vor.

UEMF geht einher mit einer Reduktion von physischer Aktivität, was zu einer Erhöhung körperlicher Risikofaktoren, wie Übergewicht und einer Reduktion der Ausdauer, Flexibilität und Kraft führt.

Kinder mit UEMF zeigen ein erhöhtes Risiko für psychosoziale Probleme. So liegen bei 43% Verhaltensprobleme, bei 53% Probleme im Umgang mit Peers und bei 70% emotionale Probleme vor. Zudem ergibt die Studienlage eine schlechtere Selbstwirksamkeitserwartung, ein negatives Selbstkonzept und einen reduzierten Selbstwert. Eine, über die rein motorische Abklärung hinausgehende, multidimensionale Entwicklungsdiagnostik ist daher sinnvoll.

Die motorischen, als auch die psychosozialen Probleme führen zu einer eingeschränkten Partizipation und Lebensqualität und zu einem erhöhten Leidensdruck.

Diagnose

Die folgenden vier Kriterien müssen erfüllt sein:

  1. Die motorischen Fähigkeiten liegen erheblich unterhalb des Niveaus, das aufgrund des Alters des Kindes und angemessenen Möglichkeiten zum Erwerb der Fähigkeiten zu erwarten wäre.
  2. Die motorischen Störungen beeinträchtigen die Aktivitäten des täglichen Lebens, die schulischen Leistungen, Freizeit- und Spielaktivitäten, zudem liegen Funktionsbeeinträchtigungen in Ausbildung und Beruf vor.
  3. Der Beginn der Störung liegt in der frühen Kindheit.
  4. Die Störung kann nicht durch eine mentale Retardierung, visuelle Störungen oder andere neurologische Störungen erklärt werden.

Kinder, die Leistungsdefizite im grob- und motorischen Auffälligkeiten zeigen, sollen entsprechend der ICD-Untergruppen klassifiziert werden, d.h.:

F82.0: Umschriebene Entwicklungsstörung der Grobmotorik
F82.1: Umschriebene Entwicklungsstörung der Fein- und Graphomotorik
F82.2: Umschriebene Entwicklungsstörung der Mundmotorik
F82.9: Umschriebene Entwicklungsstörung der motorischen Funktionen, nicht näher bezeichnet.

Die klinische Untersuchung schliesst einen neuromotorischen, sensorischen, emotionalen sowie einen Verhaltensstatus ein. Zudem soll die kognitive Funktionsfähigkeit erfasst werden.

Hinsichtlich des Kriteriums 1, sollen reliable und valide Assessments eingesetzt werden. Leitliniengemäss sind dies zurzeit die Movement Assessment Battery for Children (M-ABC-2) und der Bruininks-Oseretzky Test (BOT-2), zudem auch die Zürcher Neuromotorik. Die Testverfahren liegen mit einer Normierung im deutschsprachigen Raum vor.

Aktuell existieren keine biologischen Marker für die Diagnosestellung.

Hinsichtlich des Kriteriums 2, sollen die Aktivitäten des täglichen Lebens, das schulische Leistungsvermögen, Freizeit- und Sportaktivitäten, sowie das Spielverhalten aus dem Blickwinkel des Kindes, der Eltern, der Lehrpersonen und weiteren Bezugspersonen erfasst werden. Bei Jugendlichen und Erwachsenen sind Leistungen in der Ausbildung und im Beruf zu erfassen. Zudem ist besonderes Augenmerk auf das graphomotorischen Leistungsvermögen (Hand- oder Tastaturschreiben) zu legen.

Ergänzend zur Untersuchung und zu den Assessments kommt ein Scoreblatt „Entwicklungsstörungen der Motorik F 82 ICD-10“ für Kinder ab 4 ½ Jahren zur Anwendung.

Therapie

Von besonderer Bedeutung ist hierbei das Kriterium 2, d.h. der Einfluss der Diagnose auf die Aktivitäten des täglichen Lebens, wie die Selbstversorgung (An- und Ausziehen, Körperpflege, Essen. Verrichten der Notdurft, Mobilität), die schulischen (Handschrift) und berufsmässigen Funktionsfähigkeit, Freizeitaktivitäten, das Spiel und andere Alltagsaktivitäten, insofern ist in erster Linie eine Ergotherapie indiziert. Abhängig vom Schweregrad ergeben sich Einschränkung hinsichtlich der Partizipation und der sozialen Interaktion, welche wichtige Indikatoren für eine Intervention bilden.

Die Studienlage zeigt positive Effekte für Interventionen, die auf der Ebene der Körperfunktionen und der Aktivitäten ansetzen. Es werden insbesondere aufgabenorientierte Ansätze favorisiert, bei denen die für den Alltag des Kindes bedeutungsvollen Aktivitäten analysiert und dann Bewältigungsstrategien erarbeitet werden, die zu einer besseren Interaktion zwischen Kind, Aufgabe und Umwelt führen. Ziele sind auf der Ebene der Aktivität und der Partizipation zu setzen, d.h. die Teilhabe des Kindes in seiner Lebenssituation ist zu beachten, somit kommt auch den Umweltfaktoren eine grosse Bedeutung zu.

Positive Effekte zeigen sich bei Interventionen auf der Ebene der Aktivitäten, als auch für körperfunktionsorientierte Ansätze; Verbesserungen der motorischen Funktionen und Fertigkeiten lassen sich eindeutig belegen (Pubmed: Evaluating the evidence for motor-based interventions in developmental coordination disorder: A systematic review and meta-analysis.).

Ergotherapie

Siehe auch Kap. "Pädiatrische Ergotherapie"

Der Fokus liegt auf der Verbesserung der Handlungsfähigkeit. Ergotherapeutische Interventionen führen zu einer Verbesserung im Bereich der Alltagsaktivitäten und der Teilhabe in Situationen, die für die Betroffenen bedeutsam und wichtig sind. Insbesondere die aufgabenorientierten Ansätze sind eine Domäne der Ergotherapie. Die oben aufgeführte Review und Metaanalyse weist eindeutig auf eine Wirksamkeit von ergotherapeutischen Massnahmen hin.

März 2019
PD Dr. med. M. von Rhein

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