Schweizerische Gesellschaft der Vertrauens- und Versicherungsärzte

Kiefer – Gesichtschirurgie

Bei kieferchirurgischen Behandlungen finden sich einerseits Überschneidungen mit Nachbardisziplinen (z.B. ORL, Plastische Chirurgie), wo sich die Leistungspflicht nach KVG Art. 25 orientiert – und andererseits eigentliche Behandlungen am Kausystem. Letztere umfassen einerseits ärztliche Behandlungen nach KVG Art. 25, andererseits zahnärztliche Behandlungen nach KVG Art. 31. Letztere sind nur eingeschränkt leistungspflichtig (schwere, nicht vermeidbare Erkrankungen des Kausystems) und in Art. 17 – 19 KLV abschliessend aufgeführt (vgl. dazu KVG – Atlas der SSO 2008).

Die Behandlung von Geburtsgebrechen wird bis zum 20.Altersjahr von der IV übernommen, sofern die Person nach IVG versichert ist. Ansonsten ist die OKP zuständig. Hierbei handelt es sich vor allem um Fälle von Lippen-, Kiefer- Gaumenspalten und Dysgnathien. Sofern die Behandlungen erst nach dem 20. Altersjahr durchgeführt werden können, sind sie in der OKP leistungspflichtig.

Das Bundesgericht hat im Urteil 128 V 143 bei therapeutischen Vorkehrungen am Kausystem die Abgrenzung zwischen ärztlicher und zahnärztlicher Behandlung definiert. Demnach ist zwischen Ansatzpunkt und therapeutischer Zielsetzung zu unterscheiden. Grundsätzlich sind zahnärztliche Behandlungen vom Ansatzpunkt her therapeutische Vorkehrungen am Kausystem. Als weiteres entscheidendes Kriterium dient die therapeutische Zielsetzung. Ist die therapeutische Massnahme auf ein anderes Ergebnis als die Verbesserung der Funktion der Zähne gerichtet, liegt eine ärztliche Behandlung gemäss KVG Art. 25 vor. Fallen Ansatzpunkt und therapeutische Zielsetzung auseinander, kommt dabei der therapeutischen Zielsetzung gegenüber dem therapeutischen Ansatz grösseres Gewicht zu.

Zysten

Soweit diese in Zusammenhang mit Zähnen stehen, besteht nur bei verlagerten Zähnen (Follikularzysten) eine LP. Die radikuläre, dentogene Zyste ist immer Folge eines Zahnschadens (Karies, Gangrän) und als solche nicht leistungspflichtig (Ausnahme: Unfallfolgen Art. 31 Abs 2 KVG). Hat sich hingegen die radikuläre Zyste weit über ihren Ursprung am Zahn hinaus entwickelt und in benachbarte Strukturen (z.B. Kieferhöhle) infiltriert, stellt ihre Behandlung eine ärztliche Massnahme und damit PL unter KVG Art. 25 dar (BGE K 111/99).

Zysten im Kieferbereich, die nicht in Zusammenhang mit einem Zahnelement stehen, gelten als PL unter Art. 17.c.4. KLV (z.B. Keratozyste). Dies betrifft auch damit zusammenhängende zahnärztliche Behandlungen, die wegen der Zystenbehandlung notwendig werden (z.B. Wurzelbehandlungen oder Zahnextraktionen).

Tumoren

Die Behandlung von Tumoren stellt eine ärztliche Behandlung dar (Ausnahmen: gewisse odontogene Tumoren in Zusammenhang mit Zahnelementen). Hingegen stellt die Wiederherstellung der Kaufunktion nach Tumorresektion eine zahnärztliche Behandlung und PL unter Art. 17.c.1. resp. 17.c.2. KLV dar.

Osteopathien (Art. 17.c.3. KLV)

Hier steht die schwere Atrophie des Alveolarfortsatzes, entsprechend Cawood Klasse VI, im Vordergrund. Es handelt sich dabei um eine über das übliche Mass hinausgehende Kieferatrophie nach Zahnverlust, welche die Kaufähigkeit resp. das Tragen von Prothesen stark erschwert, ev. verunmöglicht.

Die Wiederherstellung eines prothesenfähigen Kiefers (Knochentransplantation u/o Implantate) stellt daher eine PL dar. Die LP beschränkt sich auf diese Massnahmen. Die eigentliche zahnärztlich-prothetische Versorgung ist nicht Bestandteil der LP (BGE 9C_830/2010)

Osteomyelitis (Art. 17.c.5. KLV)

Die LP betrifft zahnärztliche Massnahmen bei Vorliegen des Krankheitsbildes der akuten oder chronischen Kieferosteomyelitis, die meist dentogenen Ursprungs ist.

Davon abzugrenzen ist die lokale Ostitis, z.B. im Rahmen eines Zahnwurzelgranuloms, die sich zwar histopathologisch ebenfalls als Osteomyelitis manifestiert, jedoch nicht dem Krankheitsbild der Kieferosteomyelitis entspricht (BGE K 160/03, K 3/04, K 74/05). Lokale Ostitiden im Rahmen eines Zahnwurzelgranuloms sind meist Folge vermeidbarer Zahnschäden, die Behandlung eine zahnärztliche und damit keine PL.

Infizierte Osteonekrosen im Rahmen einer medikamentenassoziierten Osteonekrose (MRONJ), die dem Krankheitsbild einer Osteomyelitis entsprechen, sind ebenfalls LP.

Arzneimittelassoziierte Osteonekrosen der Kiefer (Medication-associated osteonecrosis of the jaw/MRONJ), Art. 17.b.3. resp. 17.c.5. KLV

Die LP umfasst in erster Linie zahnärztliche Massnahmen (Zahnextraktionen in Zusammenhang mit der Behandlung der Kiefernekrose und Wiederherstellung durch zahnärztlich-prothetische Massnahmen). Auch die lokalen chirurgischen Massnahmen (Débridement nekrotischen Knochens am Alveolarfortsatz, Curettage und plastische Deckung) können noch als zahnärztliche Massnahmen unter diesem Artikel untergeordnet werden.

Sofern sich aufgrund der Kiefernekrose ein Infekt im Sinne einer Osteomyelitis entwickelt hat, besteht auch PL.

Die antiresorptive Behandlung mit monoklonalen Antikörpern (Denosumab) bzw. Bisphosphonaten führt bei Tumorpatienten im Rahmen der Behandlung ossärer Metatstasen (z.B. Prostatacarcinom) oder Multiplem Myelom mit einer hohen Prävalenz von bis zu 19% zu Kiefernekrosen, während die Behandlung der primären Osteoporose nur selten zu derartigen Komplikationen führt (Prävalenz 0,1%).

Deshalb stellt sich die Frage, ob gegebenenfalls die zahnärztliche Herdabklärung und Herdsanierung vor antiresorptiver Therapie bei Tumorpatienten mit hoher Prävalenz in Analogie zu Strahlen- oder Chemotherapie nicht auch als PL anerkannt werden sollte. Die Schädigung des Kieferknochens durch antiresorptive Arzneimittel bei Tumorpatienten und auch die Folgen sind vergleichbar mit einer Strahlentherapie. Aus vertrauensärztlicher Sicht ist daher die Zahnherdbehandlung bei Tumorpatienten mit geplanter antiresorptiver Therapie als PL unter KLV Art. 19.c. zu befürworten. Dies würde allerdings für die Therapie der primären Osteoporose nicht gelten (niedrige Prävalenz einer MRONJ).

Kiefergelenkserkrankungen

Die leistungspflichtigen Erkrankungen sind zwar in KLV Art. 17.d.1. bis 17.d.3. (Kiefergelenksarthrose, -Ankylose, Kondylus- und Diskusluxation) aufgeführt. Jedoch stellt die eigentliche Behandlung der Kiefergelenkserkrankung eine ärztliche Behandlung unter KVG Art. 25 dar, unabhängig davon, ob der therapeutische Ansatz am Gebiss oder am Kiefergelenk liegt.

Entgegen früherer Meinung gibt es keine wissenschaftlich gesicherte Evidenz, dass okklusale Massnahmen (Zahnbehandlungen am Gebiss, Korrekturen der Gebisssituation, prothetische Versorgungen) eine wirksame Behandlung von Kiefergelenkserkrankungen darstellen. Daher können derartige zahnärztliche Behandlungen wegen fehlender WZW-Kriterien nicht als Behandlungen einer Kiefergelenkserkrankung durch die OKP übernommen werden. Hingegen können durch eine Kiefergelenkserkrankung (Arthrose, Ankylose) sekundär Okklusionsstörungen auftreten (z.B. offener Biss als Folge resorptiver Arthrose der Kieferköpfchen). Die Korrektur dieser Okklusionsstörungen ist dann als zahnärztliche Behandlung PL unter KLV Art. 17.d.1. resp. 17.d.2., da es sich um Folgen einer schweren Kiefergelenkserkrankung handelt, z.B. Korrektur einer sekundär entstandenen Dysgnathie durch Kieferosteotomie oder zahnärztlich – prothetische Versorgung einer sekundär entstandenen Okklusionsstörung.

Bei der Behandlung von Kondylus- resp. Discusluxationen handelt es sich meist um krankheitsbedingte Behandlungen (z.B. habituelle Kiefergelenksluxation). Auch hier kommen in der Regel ärztliche Behandlungen nach KVG Art. 25 zur Anwendung (Therapieziel Kiefergelenk).

Obstruktives Schlafapnoesyndrom (OSAS), (Art. 17.f.1. KLV

Als Goldstandard gilt nach wie vor die CPAP-Therapie. Bei Versagen der CPAP-Therapie (non-Compliance) kommt als wirksame Alternative eine bimaxilläre Vorverlagerung der Kiefer (Maxillo-Mandibular-Advancement) in Frage. Die Wirksamkeit dieser Behandlung entspricht gemäss Studien in etwa der CPAP-Therapie. Für die Kieferosteotomie allein (ohne Vorliegen einer Dysgnathie) wäre eigentlich die LP allein wegen des Therapieziels gegeben. Gelegentlich ist im Rahmen der Kieferosteotomie – bei Vorliegen einer Dysgnathie – eine zusätzliche kieferorthopädische Zahnstellungskorrektur notwendig und LP.

Als weitere Alternative zur CPAP-Therapie – insbesondere bei leichtem und mittelgradigem OSAS – kommt die Kieferprotrusionsschiene in Frage. Dafür wurde zusätzlich der KLV Art. 19.e. geschaffen. Dies wäre eigentlich unnötig, da es sich bei der Behandlung des OSAS mittels einer Kieferprotrusionsschiene um eine Behandlung mit ärztlicher Zielsetzung unter KVG Art. 25 handelt. Die Kieferprotrusionsschiene ist in der MiGel mit Maximalbetrag Fr. 500.- aufgeführt, dies betrifft die Herstellung, d.h. die Zahntechnikerkosten. Dazu kommen dann noch die Leistungen durch den behandelnden Zahnarzt.

Schwere Schädel-Gesichtsasymmetrien (Art. 17.f.3. und 18.b.1 KLV)

Leichtere Asymmetrien fallen nicht unter die LP, auch wenn eine durch die asymmetrische Entwicklung bedingte Okklusionsstörung (Dysgnathie) vorliegt.

Die Asymmetrie muss ein gewisses Ausmass erreicht haben, um Krankheitswert und damit LP zu erreichen, d.h. die Asymmetrie muss derart auffällig bzw. ausgeprägt sein, dass eine Störung der sozialen Integration und/oder eine ausgeprägte funktionelle Insuffizienz vorliegen.

Ursachen: Meist im Rahmen einer sekundär erworbenen Wachstumsstörung (z.B. einseitige Kiefergelenksankylose) oder überschiessendes, pathologisches Wachstum im Rahmen einer condylomandibulären Elongation oder Hyperplasie.

Die LP umfasst sowohl die operative Korrektur durch Kieferosteotomien wie auch die kieferorthopädische Zahnstellungskorrektur im Rahmen der Asymmetrie.

Die Behandlung einer Progenie des Unterkiefers als Folge einer Akromegalie ist LP und umfasst sowohl kieferchirurgische Massnahmen (Kieferosteotomie) wie auch zahnärztliche Behandlungen (Kieferorthopädie).

Geburtsgebrechen (Anhang GgV und Art. 19 a KLV)

Prinzipiell ist die Behandlung der Gg so zu planen und durchzuführen, dass die Behandlung soweit möglich zum Zeitpunkt der LP der IV, d.h. vor Abschluss der 20.Altersjahrs erfolgen kann (BGE 130 V 459). In Ausnahmefällen (z.B. Prognathia inferior entsprechend Gg 210 oder Zahnimplantate) kann eine Behandlung bis über das 20. Altersjahr hinaus notwendig werden; hier besteht dann eine LP unter dem entsprechenden Artikel KLV Art. 19a.

Wird mit der Behandlung eines Gg hingegen über das 20. Altersjahr hinaus zugewartet, besteht gemäss Rechtsprechung keine LP der OKP unter KLV Art. 19a. (BGE 130 V 459). Die OKP hat nicht für Kosten von Behandlungen aufzukommen, die vor Vollendung des 20. Altersjahrs zu Lasten der IV hätten durchgeführt werden können (BGE 130 V 294).

Zusätzlich besteht eine LP der OKP für die medizinisch notwendige Behandlung der Gg nach dem 20.Altersjahr, sofern eine Behandlung erst zu diesem Zeitpunkt möglich oder notwendig wird.

Gemäss Rechtsprechung (BGE K 111 / 02) ist die Osteotomie der Kiefer zur Korrektur einer Bissanomalie (sog. Dysgnathie) als zahnärztliche Behandlung zu qualifizieren (Therapieziel Verbesserung der Kaufunktion). Damit ist die LP unter KLV Art. 17 – 19 zu beurteilen.

Bei der Behandlung von Gg (meist Dysgnathien entsprechend Gg 208 – 210) ist die LP unter KLV Art. 19a. (20 – 22) geregelt.

März 2019
Dr. med. Werner Tank

Schweizerische Gesellschaft der Vertrauens- und Versicherungsärzte

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