Schweizerische Gesellschaft der Vertrauens- und Versicherungsärzte

Entwicklungsrückstand / Entwicklungsretardierung

Einleitung/Definition

Ein Entwicklungsrückstand oder auch Entwicklungsretardierung bezeichnet eine Verzögerung der körperlichen, geistigen oder seelischen Entwicklung von Kindern im Vergleich mit dem Entwicklungsstand von gesunden, normalentwickelten Kindern des gleichen Alters. Dabei gilt eine Abweichung von der Norm um eine bis zwei Standardabweichungen (IQ zwischen 70 und 85 oder EQ zwischen 0.7 und 0.85) als Grenzbereich, bei einer Abweichung von zwei Standardabweichungen (IQ < 70 oder EQ < 0.70) liegt eindeutig eine Entwicklungsverzögerung vor. Wichtig ist neben einer reinen quantitativen Fähigkeits-bezogenen Definition aber auch die Frage nach einer altersgemässen Partizipation.

Entwicklungsverzögerungen können global oder umschrieben sein und dabei die folgenden Bereiche betreffen:

  • motorische Entwicklung (grob- und feinmotorisch)
  • kognitive Entwicklung
  • Sprachentwicklung (Sprachverständnis und aktive Sprache)
  • emotionale und soziale Entwicklung
  • Schulische Fertigkeiten wie Schreiben, Lesen und Rechnen
Durch die Definition durch den Cut-off (EQ/IQ 70) ist statistisch eine Prävalenz von mindestens 2.5% zu erwarten, für einige umschriebene Störungen ist eine Häufigkeit von 5-15% beschrieben.

Mögliche Ursachen sind Schädigungen des Gehirns während der Schwangerschaft, der Geburt (z.B. bei extremer Frühgeburtlichkeit, Asphyxie, anderen perinatalen Problemen) oder in der frühen Kindheit, angeborene oder erworbene Erkrankungen des Nervensystems, neurometabolische Erkrankungen oder Schädel-Hirn-Verletzungen. Auch traumatische Erlebnisse, Bindungsstörungen oder Deprivation können Entwicklungsverzögerungen zur Folge haben.

Die mentale Retardierung ist zu mindestens 50% genetisch bedingt, degenerative ZNS-Erkrankungen zu über 90%. Die Ätiologie bleibt jedoch in etwa der Hälfte der Fälle unklar. Knaben sind häufiger betroffen als Mädchen, was eine geschlechtsspezifische Ausprägung mit einem erblichen Zusammenhang aufzeigt.

Diagnose

Es stehen zahlreiche Scores und Testinstrumente zur Verfügung, anhand derer der Entwicklungsstand des Kindes für die verschiedenen Bereiche ermittelt und mit dem Altersdurchschnitt verglichen werden kann. Sind (aufgrund des Alters, des soziokulturellen Hintergrundes oder anderen Gründen) keine normierten, standardisierten Tests verfügbar, muss die Diagnostik stärker auf der klinischen Einschätzung eines erfahrenen Spezialisten für kindliche Entwicklung (entwicklungspädiatrisch geschulte Pädiater, oder Psychologinnen, ggf. auch Ergo- und Lerntherapeutinnen) basieren. Eine Diagnose einer Entwicklungsverzögerung schließt alle Bereiche von Motorik, Wahrnehmung, kognitive Eigenschaften, hin zur Sprachentwicklung ein.

Die Indikationsstellung für Zusatzuntersuchungen (z.B. MRI, EEG, humangenetische/zytogenetische und metabolische Abklärung) sollte Kinderärzten (idealerweise Entwicklungspädiatern und Kinderneurologen) vorbehalten bleiben.

Therapieempfehlungen

Therapieoptionen sind spezifisch ursächlich wie auch sekundär-präventiv. Neben der spezifischen Behandlung einer allfälligen Grunderkrankung ist es angesichts einer hohen Rate von sekundären Problemen und Komorbiditäten, die mit einer Entwicklungsverzögerung einhergehen können, wichtig, betroffene Kinder früh zu identifizieren und ihren individuellen Unterstützungsbedarf zu ermitteln. Eine Reihe von Kindern entwickelt sich aufgrund einer grundlegenden Entwicklungsstörung weiter in ihrem individuellen, langsamen Entwicklungstempo und wird den Rückstand nicht aufholen können. Bei ihnen ist dennoch eine frühe Intervention indiziert, um einen "FIT" zwischen ihnen und ihrem Umfeld herzustellen und sie auf dem Weg zu einem passenden Platz in der Gesellschaft zu begleiten (Link weiterführende Literatur). Andere Kinder wiederum profitieren stark von frühen Therapieangeboten, mit denen sie ihr Defizit ganz oder teilweise ausgleichen können. Beispiele sind neben der Physiotherapie oder Heilpädagogischen Früherziehung die frühe Logopädie für Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen, Ergotherapie für Kinder mit motorischen Defiziten (UEMF) oder spezifischen Therapien für Kinder mit schweren Hör- oder Sehstörungen. Kostenträger für dieser Massnahmen sind neben den Krankenversicherern auch die IV und (bei sonderpädagogischen Massnahmen wie Heilpädagogische Früherziehung, Logopädie, Audiopädagogik und low-vision Therapie) die Schulgemeinden und der Kanton.

Leitlinien

Umschriebene Entwicklungsstörung motorischer Funktionen (UEMF): Link AWMF online / Umschriebene Entwicklungsstörung motorischer Funktionen (UEMF).

Intelligenzminderung: AWMF online, Intelligenzminderung.

Sprachentwicklungsstörungen (SES), Diagnostik von, unter Berücksichtigung umschriebener Sprachentwicklungsstörungen (USES): [[Sprachentwicklungsstörungen (SES), Diagnostik von, unter Berücksichtigung umschriebener Sprachentwicklungsstörungen (USES)|AWMF online, Sprachentwicklungsstörungen (SES), Diagnostik von, unter Berücksichtigung umschriebener Sprachentwicklungsstörungen (USES)]].

Psychische Störungen im Säuglings-, Kleinkind und Vorschulalter: AWMF online, Psychische Störungen im Säuglings-, Kleinkind und Vorschulalter.

Literatur

American Academy of Neurology. (2014). Testing For The Cause of Global Developmental Delay. Retrieved from AAN Guideline Summary for Parents and Caregivers.

Moeschler, J., & Shevell, M. (2014, August). Comprehensive Evaluation of the Child With Intellectual Disability or Global Developmental Delay. Pediatrics, e903-e918.

Perna, R., & Loughan, A. (2013). Early Developmental Delays: A Cross Validation Study. J Psychol Abnorm Child, 1(2).

Februar 2019
PD Dr. M. von Rhein

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