Schweizerische Gesellschaft der Vertrauens- und Versicherungsärzte

16 Risikobeurteilung - Underwriting

Neu, 3. Auflage, Mai 09

Medizinisches Underwriting

Ein medizinisches Underwriting wird nur bei privatrechtlichen Versicherungsprodukten durchgeführt, bei welchen das VVG die geltende Rechtsgrundlage ist, z.B. bei Todesfallrisiko- und Erwerbsunfähigkeitsversicherungen, bei gemischten Produkten, bei Zusatzversicherungen im Rahmen von UVG, KVG und Taggeldversicherungen sowie im überobligatorischen Bereich des BVG.

Geschichte und Wesen des Underwriting

Der Fachausdruck Underwriting hat sich weltweit durchgesetzt. Er steht für die Kombination von Risikoprüfung und Tarifierung, welche von speziell ausgebildeten Underwritern eines Erst- oder Rückversicherers durchgeführt werden. Im deutschsprachigen Raum wurden die Begriffe Risikoprüfer oder Tarifikator/Tarifierer weitgehend durch die Bezeichnung Underwriter ersetzt, weil letzterer das breite Spektrum von Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortung des Underwritings besser umschreibt.

Historisch lässt sich der Begriff Underwriting auf das Unterschreiben oder Zeichnen der Versicherungspolice zurückführen. Der Underwriter verlieh der Police erst durch seine Unterschrift Rechtskraft und übernahm auch oft gleichzeitig die Haftung.

Das Berufsprofil Underwriting ist anspruchsvoll und verlangt:

  • profundes Wissen über Buchhaltung, Finanz- und Versicherungswesen
  • genaue Kenntnis der Produkte des Unternehmens, für welches der Underwriter tätig ist
  • genaue Kenntnis der Geschäftspolitik dieses Unternehmens
  • ein solides medizinisches Grundwissen im Bereich der Personenversicherung

Versicherungsärztlicher Beitrag zum Underwriting

Underwriting bedeutet keineswegs nur die Einschätzung des Gesundheitszustandes eines Antragstellenden. Insbesondere bei Versicherungsprodukten, die nicht nur das Risiko Tod, sondern das Risiko Invalidität versichern, lautet die Schlüsselbotschaft: ein Risikofaktor allein sollte nie isoliert betrachtet werden. Sämtliche Risikofaktoren interagieren miteinander – egal, ob es medizinische, finanzielle, soziale oder durch das Design des Versicherungsproduktes bedingte Risikofaktoren sind. Dies muss beim Underwriting eines individuellen Falles stets beachtet werden. Es darf nicht nur auf die elektronischen Underwriting-Hilfen abgestellt werden – so wertvoll diese auch sind.

Versicherungsärzte verfügen über medizinisch-epidemiologisches Wissen, auf das durch Mitarbeitende des Underwriting im Rahmen der medizinischen Prüfung zurückgegriffen werden kann. Es ist jedoch stets das Underwriting, welches entscheidet, wie der Antrag auf Abschluss einer Versicherung beschieden wird und ob versicherungsärztliche Unterstützung vonnöten ist. Versicherungsärzte stehen dem Underwriting in beratender Funktion zur Seite. Sie fällen im juristischen Sinn keine Entscheide, analog dem Vertrauensarzt im KVG.

Sinn und Zweck des Underwriting

Ziel des Underwriting ist es, einerseits ein gutes Prämienvolumen zu generieren und möglichst viele Kunden zu gewinnen, was dadurch erreicht wird, dass den Antragstellenden ein passendes Versicherungsprodukt und eine optimal angepasste Prämie offeriert werden. Andererseits soll durch das Underwriting sowohl die Versicherungsgesellschaft wie auch die Gesamtheit der dort Versicherten vor finanziellen Verlusten geschützt werden, da Verluste zu Prämienerhöhungen aller Versicherten führen würden. Das macht die Aufgabe des Underwritings anspruchsvoll: Ist es übervorsichtig, lehnt es zu viele Anträge ab oder setzt es zu oft Erschwernisse fest, dann schliessen die Kunden und Kundinnen mit einer konkurrierenden Versicherungsgesellschaft den Vertrag ab und der erstangefragten Versicherungsgesellschaft entgeht ein Geschäft. Ist das Underwriting aber zu liberal, dann spricht sich dies schnell herum, viele „schlechte Risiken“ stellen Anträge, die angenommen werden. In der Folge häufen sich die Schadenfälle. Dadurch entstehen der Versicherungsgesellschaft Verluste, welche durch eine bessere Risikoprüfung hätten vermieden werden können. Sind diese Verluste sehr gross, dann wirkt sich das auf den Geschäftsverlauf und auf die Prämien aus und betrifft daher alle Kunden des Versicherers. Ein schlechter Geschäftsverlauf bei einem Versicherer schwächt dessen Konkurrenzfähigkeit. Schlechte Geschäftsverläufe bei mehreren Versicherungsgesellschaften oder gar bei der gesamten Versicherungsindustrie sind bedeutsam für die Gesamtwirtschaft, denn die Versicherungsindustrie ist ein wichtiger Teil davon: So generiert allein die Privatassekuranz über 50 Milliarden Franken Prämien in der Schweiz, über 100 Milliarden im Ausland. Sie beschäftigt über 125‘000 Personen, davon mehr als ein Drittel in der Schweiz.

Da Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko den Abschluss der Versicherung, die Art der Police und den Geschäftsverlauf beeinflussen, müssen beide bestmöglich abgeschätzt werden. Im Gegensatz zur klinisch tätigen Ärzteschaft, der viele Daten aus der Krankengeschichte ihrer Patienten zur Verfügung stehen und die zuwarten und den Patienten immer wieder einbestellen kann, um den Verlauf zu beobachten und die Prognose einzuschätzen und notfalls zu korrigieren, muss in der Versicherungsmedizin im Rahmen des Underwriting aufgrund von wenig Daten rasch entschieden und eine Prognose für die gesamte Laufzeit des Vertrags erstellt werden. Während sich in der klinischen Medizin der „Film“ der Patienten offenbart, bekommt die Versicherungsmedizin nur ein einzelnes „Standbild“ zu sehen. Doch nichtsdestotrotz lohnt sich das Geschäft. So sind Zusatzversicherungen, auch Krankenzusatzprodukte, gewinnträchtig: Die Schadenquoten liegen bei den meisten grossen Anbietern unter 80% und die Gewinne waren über Jahre hinweg stabil. Der Verkauf von Zusatzversicherungen ist für die Aussendienste daher ein wesentlicher Anreiz, Neuakquisition im Krankenversicherungssektor zu betreiben.

Ablauf der Vertragsverhandlung

Verhandlungen über den Abschluss eines Versicherungsvertrags zwischen dem Versicherer und dem Versicherungsnehmer können erfolgen, nachdem entweder der Versicherer via Agent oder Makler an den potenziellen Kunden herangetreten ist oder nachdem sich der Versicherungsschutzsuchende an den Versicherer gewandt hat. Wird der Versicherungsvertrag abgeschlossen, werden dies und die genauen Modalitäten in der Police dokumentiert. Die Police muss daher neben der Auflistung der Vertragspartner auch sämtliche vertraglichen Vereinbarungen enthalten - gegebenenfalls als Beilage - und zwar sowohl die Allgemeinen Geschäftsbedingungen wie auch Individualvereinbarungen, wie z.B. alle individuellen Angaben über das spezielle Risiko, die Versicherungssumme, den Beginn und die Dauer der Versicherung, die Prämie sowie allfällige weitere am Vertrag Beteiligte und mögliche Erschwernisse. Außerdem können in der Police auch Bezugsrechte, Verpfändungen oder Abtretungen zugunsten anderer eingetragen sein. Beispielsweise können Kreditinstitute eingesetzt werden, zu deren Gunsten im Schadensfall die Versicherungssumme ausbezahlt wird.

Der Versicherungsschutzsuchende kann seinen Antrag auf Versicherung formlos stellen. Der Versicher hingegen hat eine Fragepflicht. Meistens gibt er ein Formular ab, auf welchem Fragen nach gewünschtem Deckungsumfang, Versicherungs-Produkt, Versicherungsbeginn, Gesundheitszustand / -schäden des Versicherungsnehmers und anderen Gefahrstatsachen (= Risikotatbestände) aufgelistet sind. Dies erfolgt beim Online-Abschluss analog mittels elektronischen Kontaktformularen.

Ausserdem hat der Versicherer eine Informationspflicht. Er muss die allgemeinen und besonderen Versicherungs-Bedingungen (= AVB / BVB) beilegen, und zwar vor Vertragsabschluss. Eine Bindefrist für den Antragsteller läuft ab Übergabe / Absenden des Antrags gemäss Art. 1 VVG, doch viele Versicherer verzichten darauf. Fordern Underwriting oder medizinischer Dienst des Versicherers weitere Unterlagen an oder verlangen sie, dass medizinische Untersuchungen beim Antragsteller durchzuführen sind, dann verlängert sich die Frist auf vier Wochen (Art. 1 VVG).

Datenschutz, Schweige- und Auskunftspflicht der Ärzteschaft

Versicherer bearbeiten besonders schützenswerte Personendaten ihrer Versicherungsnehmer und Versicherten. Gemäss Art. 3 des Bundesgesetzes über den Datenschutz (DSG) werden besonders schützenswerte Personendaten folgendermassen definiert: Daten über die religiösen, weltanschaulichen, politischen oder gewerkschaftlichen Ansichten oder Tätigkeiten, die Gesundheit, die Intimsphäre oder die Rassenzugehörigkeit, die Massnahmen der sozialen Hilfe sowie administrative oder strafrechtliche Verfolgungen und Sanktionen.

Versicherer müssen daher beim Umgang mit medizinischen Daten im Underwriting-Prozess grösste Sorgfalt walten lassen und die datenschutzrechtlichen Bestimmungen strikte einhalten. Zu den Pflichten der Geschäftsleitung und des Verwaltungsrates einer Versicherung gehört es einerseits, die Datensammlungen anzumelden. Ausserdem muss aktiv nach möglichen Naht- bzw. Sickerstellen zwischen Sozialversicherungs- und Privatversicherungs-Teams und deren Datensammlungen gesucht werden und es sind die nötigen Vorkehrungen für datenschutzrechtlich korrekte Prozessabläufe zu treffen, sowohl was diese Daten wie auch was deren Bearbeiter betrifft. Die Bestimmungen von Kapitel 1, Art. 9 der Verordnung zum Bundesgesetz zum Datenschutz (VDSG) betreffend Kontrolle von Zugang, Personendatenträgern, Transport, Bekanntgabe, Speichern, Benutzern, Zugriff und Eingabe sind einzuhalten. Effizienzsteigerung und Gewinnoptimierung dürfen nicht auf Kosten des Datenschutzes erzielt werden.

Die Privatassekuranz beratende Versicherungsärzte tragen hier ebenfalls eine Verantwortung. Die Wahrung der Persönlichkeitsrechte von Antragsstellenden und Versicherten stellt ein Rechtsgut dar, welches den geschäftlich bedingten Interessen der Auftrag gebenden Versicherung vorgeht. Immer wieder das Gespräch zu suchen, hartnäckig und unbeirrt an den gesetzlichen Grundlagen festzuhalten und auf deren Umsetzung zu bestehen, kann dazu führen, dass der Versicherungsarzt als „unbequem“ gilt. Doch - abgesehen von den Rechten der Versicherungsnehmer und Versicherten - sollten Versicherungsärzte auch daran denken, dass es sich bei Verletzungen von Datenschutz und ärztlicher Schweigepflicht um Sonderdelikte handelt, für welche sie selbst straf- und zivilrechtlich höchstpersönlich zur Verantwortung gezogen und sanktioniert werden könnten. Auch aus diesem Grund ist der „Weg des geringsten Widerstands“ der falsche Weg.

Berechtigung und Verpflichtung, Auskunft zu erteilen

Ärzte, welche die Antragstellenden betreuen und behandeln, sind nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet, im Rahmen des Underwriting vollumfänglich Auskunft zu erteilen, und zwar direkt an die Mitarbeitenden des Underwritings der Versicherung. Dafür muss jedoch zwingend die Einwilligung des Antragstellenden vorliegen. In der Regel genügt ein Hinweis des Versicherers in seiner Anfrage.

Dem ärztlichen Bericht im Versicherungsantrag kommt grösste Bedeutung zu. Grundversorger sollten der Ätiologie und der Pathogenese von pathologischen Befunden ihres Patientenguts auch dann sorgfältig nachgehen, wenn es sich „nur“ um einen Antrag auf Versicherung handelt. Sie sind es, die die besten Voraussetzungen für eine optimale Diagnostik haben, sie kennen zudem noch die persönliche und die Familienanamnese der Patienten, haben über Jahre hinweg klinische Untersuchungsbefunde, Laborbefunde und Resultate von bildgebenden Methoden erhalten. Kurz: sie kennen den «Lebensfilm» der Antragstellenden, während Underwriting und Versicherungsärzteschaft nur ein einziges Standbild aus dem ganzen langen Filmstreifen zu sehen bekommen.

Behandelnde sollten von Versicherern nicht dazu aufgefordert werden, Morbiditäts- oder Mortalitätseinschätzungen abzugeben. Es ist nicht ihre Aufgabe, sondern die der Versicherungsmedizin, die über riesige Datensammlungen mit vielschichtigen Informationen über eine grosse Anzahl von sorgfältig stratifizierten Versicherten verfügt. Genauso, wie es eine evidenzbasierte Medizin

gibt, gibt es auch eine evidenzbasierte Versicherungsmedizin. Die in Versicherungen vorgenommene Risikoprüfungen und Prämienkalkulationen beruhen ebenfalls auf gut abgestützten Fakten. Umfangreichstes Datenmaterial wurde über lange Zeiträume hinweg in der ganzen Welt erhoben und ist wegen seiner «grossen Zahlen» aussagekräftig. Es wird von Spezialisten und Experten in Versicherungsmedizin und Epidemiologie, in Mathematik, Statistik und Aktuarwesen mittels anspruchsvoller Methoden bearbeitet.

Antragstellende und ihre Anzeigepflicht

Betreuende Ärzte sehen sich oft als „Anwälte für Patientenrechte“. Daher sollten sie den Versicherungsschutzsuchenden, die sie behandeln, auch darlegen, dass jene in ihrem ureigenen Interesse ehrliche und vollständige Angaben im Antrag machen sollten. Wenn sich im Schadenfall nämlich herausstellt, dass etwas verschwiegen oder bewusst falsch dargestellt wurde, kann sich die Versicherungsgesellschaft auf Anzeigepflichtverletzung berufen und muss die Leistungen nicht erbringen – und dies in genau dem Moment, in dem die Versicherten diese Leistungen dringend benötigen!

Antragstellende müssen gemäss Art. 4 VVG alle Fragen richtig und vollständig beantworten und tragen die Verantwortung dafür selbst - auch wenn Dritte wie Agenten oder Makler beim Ausfüllen des Antrags helfen (BGE 108 II 550, 96 II 208 f. Erw. 3, 72 II 131 f. Erw. 4). Der Versicherer ist keineswegs dazu verpflichtet, die gemachten Angaben zu überprüfen, sondern darf sich gemäss des Grundsatzes von Treu und Glauben auf die Angaben verlassen (BGE 73 II 56 Erw. 6).

Wird einem Versicherten eine Anzeigepflichtverletzung nachgewiesen, dann kann der Versicherer nach Art. 6 VVG vom Vertrag zurücktreten und gemäss Art. 100 Abs. 1 VVG und Art. 62 Abs. 1 OR bereits erbrachte Leistungen zurückfordern. Eine Anzeigepflichtverletzung liegt dann vor, wenn der Antragsteller eine erhebliche Gefahrstatsache, die er kannte oder kennen musste, und die Gegenstand einer schriftlichen Frage des Versicherers im Sinne von Art. 4 VVG bildete, unrichtig mitgeteilt oder verschwiegen hat.

Der Versicherer hat vier Wochen Zeit (Verwirkungsfrist), vom Vertrag zurückzutreten, nachdem er von der Anzeigepflichtverletzung sichere, zweifelsfreie Kenntnis erhalten hat. Wird ein Fall von Anzeigepflichtverletzung vor Gericht verhandelt, dann wird geprüft, welches Wissen die antragstellende Person haben müsste. Dabei wird angestrebt, ihrer Intelligenz, Bildung, Erfahrung und den persönlichen Verhältnisse Rechnung zu tragen. Seit dem 1.1.2006 gilt im revidierten VVG bezüglich der Leistungsbefreiung des Versicherers neu ein Kausalitätserfordernis. Der Versicherer ist nur noch leistungsfrei, wenn die verschwiegene oder unrichtig angezeigte erhebliche Gefahrstatsache den späteren Schaden "beeinflusst" hat. Für die übrigen Schadenfälle muss er die Leistungen erbringen. Die Anzeigepflichtverletzung führt zudem neu zu einem Kündigungsrecht des Versicherers. Gemäss dem neuen Grundsatz der Teilbarkeit der Prämie muss der Kunde die Prämie nur noch für die Zeit bis zur Vertragsauflösung bezahlen.

Verhältnismässigkeit, Diskriminierung und Antiselektion

In jedem Fall sollte beim Underwriting stets der Grundsatz der Verhältnismässigkeit beachtet werden. Bei Fragen nach Ethnie, Alter, Geschlecht, Lebensstil und Familienanamnese müssen die geltenden Diskriminierungs- und Antirassismusgesetze eingehalten werden. Auf der anderen Seite müssen sich holistisch arbeitende Underwriter bewusst sein, dass beim Underwriting für Invaliditäts-Versicherungsprodukte auch äussere Faktoren, wie die Rechtsprechung und die allgemeine Wirtschaftslage einerseits und diverse individuelle „weiche Faktoren“ andererseits, die im Umfeld des Versicherten zu finden sind, ungleich wichtiger sind als harte medizinische Fakten. Nicht nur privatwirtschaftliche Unternehmen, sondern sogar Behörden sollen in Zeiten unsicherer Konjunktur das Auffangnetz von Versicherungen dazu genutzt haben, um sich nicht mehr genehmer Arbeitnehmenden zu entledigen. Als in den Vereinigten Staaten von Amerika die Gerichte den Patienten exorbitante Geldforderungen zusprachen, nachdem diese ihre Ärzte wegen angeblichen Behandlungsfehlern verklagt hatten, resignierten immer mehr Ärzte, gaben ihren Beruf auf und flüchteten sich in die Invalididät. Ein äusserer Faktor machte so aus ehemals exzellenten, begehrten Risiken in kurzer Zeit Risiken, die niemand mehr versichern wollte.

Die Ehr- und Redlichkeit der Antragstellenden ist einer der wichtigsten Faktoren, da ein Versicherungsvertrag wie jedes Vertragsverhältnis auf Treu und Glauben basiert. Daher sollte ein „moralisches Risiko (=moral hazard)“ nicht ignoriert werden: Macht ein Versicherungsschutzsuchender bereits im Antragsstadium betreffend Grösse, Gewicht und Krankheitsanamnese bewusst unrichtige Angaben, dann ist davon auszugehen, dass er dies auch tun wird, um sich Leistungen zu verschaffen. Ein besseres Wissen über die Versicherungsbranche geht gemäss internationalen Studien mit teureren Schadenzahlen einher: Versicherungsmitarbeiter, Agenten und Medizinalpersonal gebrauchen ihr Mehrwissen nämlich nicht selten dazu, um sich einen Versicherungsschutz zu besonders günstigen Konditionen zu verschaffen, wenn sie vermuten, dass eine noch nicht manifeste Erkrankung bei ihnen ausbricht. Lassen sich viele Personen versichern, welche bereits wissen, dass sie für geringe Prämien grosse Leistungen erhalten werden, wird dies mit dem Begriff „Antiselektion“ bezeichnet.

Trotz weltweit zunehmender Gleichberechtigung sind die Erwartungen der jeweiligen Gesellschaften unterschiedlich auf die Männer und Frauen, die in diesen sozialen Umfeldern leben. Noch immer ist der soziale Druck auf Frauen grösser, familiäre Aufgaben zu übernehmen und die eigene Berufstätigkeit zurückzustellen, wogegen von Männern nach wie vor erwartet wird, dass sie vollzeitig berufstätig sind. Dies kann dazu führen, dass weibliche Versicherte eine Teil- oder Vollinvalidität anstreben. Es gibt zudem auch Milieus, wo sozialer Druck auf Personen ausgeübt wird, die nicht berentet oder arbeitslos sind. Einer der wichtigsten Faktoren, dass Invaliditätsleistungen beantragt werden, ist eine bereits bestehende Berentung in der Partner- oder Verwandtschaft.

Ablauf der Arbeitsprozesse im Underwriting

Als erstes erfolgt eine formelle Prüfung der Unterlagen durch das Underwriting: Sind die Antragsformulare und die benötigten Informationen vollständig? Bestehen weitere Versicherungsdeckungen des Antragstellers? Dann führt das Underwriting eine materiell-versicherungstechnische Prüfung des Antrags durch: Wer ist der Versicherungsnehmer, wer sind die Versicherten, wer sind die Begünstigten? Was genau ist der Versicherungszweck? Wie ist der Versicherungsbedarf und wie hoch ist der vom Antragsteller gewünschte Deckungsumfang? Welches Produkt wird gewünscht, bzw. wäre anzuraten? In einem dritten Schritt prüft das Underwriting die finanziellen Verhältnisse der Antragstellenden. Je nach Höhe der Versicherungssumme werden detaillierte Unterlagen eingefordert, z.B. Steuerunterlagen und Betriebs-Bilanzen. Das Berufsumfeld wird abgeklärt: Wohn- und Arbeitsort, Anforderungsprofil der beruflichen Tätigkeit, absolvierte Ausbildungen, Berufsbiografie sowie Reisen und Freizeitaktivitäten werden dazu unter die Lupe genommen. Insbesondere bei Invaliditäts-Versicherungsprodukten ist die Höhe der Einkommens-Ersatzrate wichtig. Ist sie sehr hoch, dann besteht für die Versicherten nur wenig Anreiz, die Arbeit wieder aufzunehmen, bzw. dies innert angemessener Frist zu tun.

Sind all diese Prüfungen erfolgt, dann holt das medizinische Underwriting zusätzliche Informationen ein. Neben den Grundinformationen wie Alter und Geschlecht wird oft schon auf einfachen Antragsformularen Grösse und Gewicht erfragt, sowie eine Selbstdeklaration des Antragsstellenden über seinen aktuellen Gesundheitszustand, bzw. über durchgemachte Erkrankungen und Operationen verlangt. Sieht der Vertrag im Schadenfall sehr hohe Leistungen vor, kann der Versicherer eine ausgiebige Prüfung des Gesundheitszustands verlangen – bis hin zur Untersuchung der zu Versichernden durch einen beauftragten Arzt.

Normalannahme

Annahme mit Erschwernissen, mit oder ohne Revisionsmöglichkeit, z.B.:

  • Policen- Definition anpassen, was unter Invalidität bzw. zumutbarer Arbeit zu verstehen ist
  • zeitlich begrenzter Vorbehalt für Störungen und Erkrankungen
  • lebenslanger Ausschluss von Störungen und Erkrankungen
  • Tarifmodifikation/Prämienzuschlag
  • Deckungssumme plafonieren
  • Laufzeit des Vertrags begrenzen
  • Zeit-Periode, in welcher die Leistung beantragt und erbracht werden darf, begrenzen
  • Wartefrist modifizieren

Zurückstellen des Antrags, um weiteren Verlauf oder weitere Abklärungen abzuwarten

Ablehnung

Im Einzeltodesfallrisikoversicherungsgeschäft werden ca 95% aller Anträge zu Normalbedingungen angenommen, ca 3 - 4% mit Erschwernis, ca 1 - 2% der Anträge werden abgelehnt.

Im Invaliditätsgeschäft gibt es grosse regionale und berufsspezifische Schwankungen. In der Schweiz und Deutschland werden zirka 85% aller Anträge angenommen, um die 15 - 50 % der Verträge werden mit einer Erschwernis versehen, insbesondere bei Berufen mit körperlich sehr schweren Tätigkeiten und ca 2 -15 % der Anträge werden abgelehnt.

Konsequenzen aus Underwriting-Entscheiden

Wie verhält es sich nun bei unklaren Befunden, in der Grauzone zwischen vernachlässigbarer Bagatelle und potenziell tödlicher Krankheit? Und welche Konsequenzen haben die möglichen Vorgehensweisen des Underwritings, nämlich Annahme mit oder ohne Erschwernis, Ablehnung oder Zurückstellen des Antrags?

Annahme zu Normalbedingungen

  • Der unklare Befund wird vom Underwriting als vernachlässigbar beurteilt und der Versicherungsantrag zu Normalbedingungen angenommen. Ist es tatsächlich ein harmloser Befund ohne pathologisches Korrelat, dann liegt der günstigste Fall vor: weitere Abklärungen sind für den Gesundheitszustand der antragstellenden Person nicht nötig, da sie nicht erkranken wird. Als Versicherte kommt sie in den Genuss einer niedrigen Prämie, die Versicherungsgesellschaft spart weitere Abklärungskosten und hat weitere zufriedene, neue versicherte Personen und Prämienzahler gewonnen.
  • Ist es jedoch kein harmloser Befund und wurde der Vertrag trotzdem zu Normalbedingungen angenommen, bedeutet es für die Versicherung einen finanziellen Verlust, wenn die versicherte Person dann kurz nach Abschluss invalide wird oder stirbt. Für die versicherte Person besonders gefährlich ist, wenn sie und ihr behandelnder Arzt sich in falscher Sicherheit wiegen. Der Befund wird nicht weiter kontrolliert und unter Umständen wird das Diagnostizieren einer Erkrankung versäumt, die im Frühstadium noch heil- oder verbesserungsfähig gewesen wäre.

Zurückstellung, weitere Abklärung oder Annahme mit Erschwernis

  • Der unklare Befund wird vom Underwriting als nicht vernachlässigbares Risiko eingeschätzt. Es bietet deshalb vorerst keinen Versicherungsabschluss an und rät der antragstellenden Person, den unklaren Befund abklären zu lassen. Die zweite Möglichkeit ist, dass es einen Vertrag mit Prämienzuschlag offeriert. Es kann auch einen Prämienzuschlag festsetzen und der antragstellenden Person zusätzlich anbieten, den Antrag nach einer vertieften Abklärung aufgrund der verbesserten Datenlage erneut zu prüfen. Die Frage ist dann nicht nur, ob das Underwriting raten soll, den Befund weiter abzuklären und falls ja, wie ausführlich dies geschehen sollte, sondern auch, wer für die Abklärung zahlt.
  • Lässt die antragstellende Person ihren Befund nicht weiter abklären und akzeptiert den Risiko-zuschlag, dann zahlt sie eine zu hohe Prämie, wenn in Wirklichkeit ein harmloser Befund vorliegt.
  • Lässt die antragstellende Person ihren Befund nicht weiter abklären, akzeptiert sie den Risikozuschlag und liegt tatsächlich ein gefährlicher Befund vor, dann kann sie die rechtzeitige Diagnose verpassen und einen Gesundheitsschaden davontragen.
  • Lässt die antragstellende Person ihren Befund abklären und stellt sich der Befund dann als harmlos heraus, wird der Antrag zu Normalbedingungen angenommen. Doch dies hat Zeit und Geld gekostet und die antragstellende Person beunruhigt.
  • Lässt die antragstellende Person ihren Befund abklären und stellt es sich heraus, dass der Befund nicht harmlos ist, wird entweder eine Erschwernis angebracht oder der Antrag ganz abgelehnt, was ärgerlich für die antragstellende Person (und für die Versicherung) ist.

Ablehnung

Generell ist eine Versicherungsgesellschaft an Abschlüssen und einem grossen Versichertenkollektiv interessiert. Doch es ist möglich, dass der unklare Befund den Ausschlag für eine Ablehnung gibt, insbesondere wenn noch andere Risikofaktoren vorliegen. Für die antragstellende Person ist eine Ablehnung von Nachteil, da sie dann ja keinen Versicherungsschutz erhält, und der Versicherer kann kein Geschäft abschliessen.

Möchte die antragstellende Person nicht zahlen oder sieht sie die Ablehnung als ungerechtfertigt an, steht es ihr nun frei, einen Antrag bei einer anderen Versicherungsgesellschaft zu stellen. Je nach Versicherungsprodukt, Vertragsbedingungen und Höhe der versicherten Summe wird diese aber den Antrag nach der eigenen Prüfung noch zusätzlich von ihrer Rückversicherungsgesellschaft prüfen lassen.

Qualitative Anforderungen an gutes Underwriting

Underwriting steht unter der kritischen Beobachtung der Öffentlichkeit, es ist einer Legitimationsforderung ausgesetzt. Es werden immer wieder Versuche des Eingreifens durch Regulatoren und Gerichte beobachtet, sowie Druck durch Interessenvertretungs-Gruppierungen ausgeübt.

Methodik und Entscheidungsvorgaben der Risikoprüfung in der Privatassekuranz sollten ständig überprüft und optimiert werden. Sie sollten evidenzbasiert und auf dem neuesten Stand des Wissens sein. Leistungsausschlüsse müssen umsichtig und gut verständlich formuliert sein, sonst sind sie im Leistungsfall rechtlich unhaltbar. Zu beachten ist aber andererseits, dass Laien – zu denen oft auch nicht versicherungsmedizinisch ausgebildete Ärzte gehören – aus Unkenntnis der rechtlichen und versicherungsspezifischen Grundlagen gelegentlich Fehlschlüsse ziehen und unrichtige Forderungen oder Verweigerungen äussern. Hier ist das Underwriting gefordert: Aufklärung, Rechtsbelehrung und Beratung gehören zum Service guter und zeitgemässer Versicherer. Und nicht zuletzt: Leistungsausschlüsse sollten auch im Massenschadenbereich konsequent durchgesetzt werden, um Rechtssicherheit, Rechtsgleichheit und fairen Wettbewerb zu garantieren.

Probleme, Fragen und Diskussionsstoff

Am einfachsten ist das Underwriting im Bereich der Todesfallrisikoversicherungen. Es hört sich etwas makaber an, aber dort ist das Ereignis, bei dem die Leistung geschuldet ist, klar deklariert: Es ist das Ableben der versicherten Person. Der Tod ist objektiv und einfach nachweisbar und er wird im Allgemeinen von den Versicherten nicht als anzustrebender Zustand gewünscht, daher ist der Anreiz seitens der versicherten Person gross, dass der Versicherungsfall möglichst nicht eintritt.

Die Mortalität von Todesfallrisikoversicherten ist geringer ist als die der Gesamtbevölkerung. Bei den Versicherungsprodukten, bei denen das reine Todesfallrisiko versichert ist, dominieren risikogerechte Prämien als Erschwernisform, denn die Grundprämie spiegelt bereits die in der Bevölkerung normal verteilten gesundheitlichen und unfallbezogenen Risiken wider. Das Risiko zu sterben beträgt für alle und jeden 100%. Daher wird bei höherem Mortalitätsrisiko von einer prozentualen „Übersterblichkeit“ gesprochen, für die Prämienzuschläge erhoben werden. Die Mortalität einer Bevölkerungsgruppe ändert sich eher langfristig, mit Ausnahme von Seuchen wie einer Pandemie mit hoher Sterblichkeit. Gefahrstatsachen sind normalerweise Krankheiten, Krankheitsrisiken, Unfälle und Unfallrisiken aller Art, die zum Tod führen können. Die Tarife lassen sich aufgrund von epidemiologischen Daten, Sterbetafeln und Schadenstatistiken gut berechnen.

Anders verhält es sich, wenn nicht nur das Todesfallrisiko allein versichert wird, sondern wenn es mit dem Erwerbsunfähigkeits-Risiko kombiniert wird, wie es bei den gemischten Produkten der Fall ist, z.B. in der Schweiz bei der Säule 3a. Invalidität ist schwierig zu definieren und ihre Eintretenswahrscheinlichkeit wesentlich schwieriger vorauszusagen als der Todesfall. Sie ist häufig nicht die Folge von „harten Fakten“, sondern ausschlaggebend sind „weiche und nicht-medizinische Faktoren“, die zum Teil sogar von den Versicherten selbst beeinflusst werden können. Zudem wird eine Invalidität - je nach Einkommenersatz-Ratio und individueller Lebensplanung - von einigen der versicherten Personen als angenehmer, anzustrebender Zustand angesehen. Der Anteil der Antragstellenden, die zu erschwerten Bedingungen angenommen werden, ist daher wesentlich höher als bei den reinen Todesfallrisikoversicherungen.

Krankenzusatzversicherungen sind mehrheitlich als Produkte entwickelt worden, die die Kostenfolgen der Morbidität abdecken. Da jedoch in der Schweiz die obligatorische Krankenpflegeversicherung, eine Sozialversicherung, die notwendigen Leistungen übernimmt und der Leistungskatalog sehr umfangreich ist, deckt die Krankenzusatzversicherung meist gehobene Ansprüche ab, deren Kostenfolgen starken unter anderem auch modisch bedingten Schwankungen unterworfen sind.

Das Underwriting von Krankenzusatzversicherungen arbeitete bis dato vor allem mit Leistungsausschlüssen. Die Annahme-Vorschriften sollten jedoch auf Evidenz basieren. Grundlage der Annahmerichtlinien sollte die statistisch abgesicherte Schadenerfahrung des eigenen Portfolios aus der Vergangenheit sein, was die wiederholte gründliche Analyse der eigenen Daten voraussetzt. Nebst der eigenen Schadenerfahrung sollten generelle Erkenntnisse aus Bevölkerungspools oder aus der Grundversicherung einfliessen. Ausserdem sollten Morbiditätstrends und Kostenerwartungen extrapoliert und medizinische Entwicklungen in die Kalkulationen mit einbezogen werden. Dabei ist zu beachten, dass neue medizinische Behandlungsmethoden heilen können, also das Risiko des Eintretens weiterer Schäden im Verlauf der Zeit erheblich mindern oder jegliche weitere Behandlung unnötig machen können. Sie können aber auch so teuer sein, dass sie den Barwert aller zukünftigen Prämien übersteigen. Oder aber sie können den Barwert aller zukünftigen Prämien unterschreiten und damit den operativen Gewinn der Versicherung auf eine einzelne Police steigen lassen. Neue Therapien können zu Beginn sehr teuer, im Verlauf dann aber billiger werden, wie dies z. B. bei topisch verwendeten Aerosolen in der Pneumologie der Fall war. Je nach Präferenz der versicherten Personen kann die Schadenhöhe variieren. Die Behandlungen der gleichen Erkrankung, an der zwei Betroffene leiden, können im einen Fall teuer sein, im anderen Fall hingegen billig; z.B. wenn der eine Kranke eine palliative Therapie vorzieht, der andere aber eine kurative Behandlung wünscht, auch wenn diese sehr teuer und die Chance einer Heilung gering ist.

In der Schweiz gibt es keine „Critical Illness-Produkte“ wie in Ländern, in denen keine so gute soziale Krankenversicherung existiert. Diese Produkte versichern gewisse Erkrankungen wie. z.B. einen Herzinfarkt, einen Schlaganfall, ein onkologisches Leiden. Bei diesen Produkten sollte die Formulierung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen auch mit einem Versicherungsarzt besprochen werden, da sich sonst bei der Interpretation - im strittigen Leistungsfall - grosse Probleme ergeben.

Generell gilt, dass in der Versicherung multidisziplinäre Aufgaben die Regel sind. Schaden-/Leistungsbearbeitung, Underwriting und Produktegestaltung haben so viele verschiedene Aspekte, dass Spezialisten vieler Disziplinen zusammenarbeiten müssen. Dem Arzt in der Versicherung sollte klar sein, dass er - anders als im Spital und in der Arztpraxis - hier nicht so einfach die Kompetenz erwerben kann zu verstehen, was in den anderen Bereichen gemacht wird. Der Versicherungsarzt sollte sich zumindest soviel Mithörkompetenz erwerben, dass er rudimentär versteht, was Versicherungsjuristen, Versicherungsmathematiker, Produktedesigner und die Spezialisten von Schaden-/Leistungsbearbeitung arbeiten und welche Aufgabenstellung der Vertrieb hat. Erst dann kann - und soll - er sich zu Wort melden. Den anderen Spezialisten in der Versicherung ist manchmal nicht klar, dass Personenversicherung nicht ohne versicherungsmedizinisches Wissen auf hohem Niveau durchführbar ist. Für das Underwriting liefern vor allem Versicherungsmathematiker und Epidemiologen die wichtigsten Grundlagen. Dort ist das gut gestaltete Versicherungsprodukt wichtig und nicht der Einzelfall, mit dem sich der klinisch arbeitende Arzt und der Leistungs-/Schadenarzt befasst.

Provozierende Thesen, Fragen und Beispiele zur Diskussion

Im Folgenden stellen die Verfasser Thesen auf und schildern einige Beispiele aus ihrer Tätigkeit, die bewusst provozieren und zur Diskussion anregen sollen.

Krankenzusatzversicherungen sind gewinnorientiert und bringen tatsächlich seit Jahren auch den Versicherern Gewinne. Das Käufersegment für Krankenzusatzversicherungen stagniert, viele Produkte haben seit Einführung des KVG an Attraktivität verloren. Modularisierte Produkte schaffen immer kleinere Risikopools; ihre Ergebnisse sind anfällig für einzelne Grossschadenfälle. Eine Einschränkung des KVG-Leistungskatalogs böte zwar neue Chancen; doch der 'moral hazard' ist bei Antragsstellern für Produkte, welche die aus der Grundversicherung ausgeschlossene Leistungen abdecken, umso grösser. Die Versicherer stehen vor dem Dilemma Produkte verkaufen zu müssen, die neue Konsumbegehrlichkeiten wecken. Für den Underwriter und den Arzt im Underwriting bedeutet der 'moral hazard', dass er im Vergleich zum Zwangskollektiv 'Soziale Grundversicherung' mit einer noch deutlicheren Verzerrung der Normalverteilung der Risiken bei Antragsstellern rechnen muss. Ein höherer Prozentsatz von Antragsstellern mit Erschwernissen muss erwartet werden. Viele Produkte (z.B. Produkte mit Präventionsbeiträgen wie Fitness- oder Badeanstaltsaisonkarten oder Produkte mit Komplementärmedizin-Deckung) sind vorwiegend Marketingvehikel. Sie zielen nicht unbedingt auf eigenständige Gewinne ab. Es bestehen Hinweise, dass Kunden dieser Produkte, die ambulante komplementärmedizinische Leistungen in Anspruch nehmen, auch in der sozialen Grundversicherung Mehrleistungen verursachen. Die Methodik und die Entscheidungsvorgaben der Risikoprüfung in der Krankenzusatzversicherung sind zum Teil veraltet und oft nicht evidenz-basiert, Leistungsausschlüsse sind oft nicht gut formuliert oder im Leistungsfall selbst bei umsichtiger Wortwahl rechtlich unhaltbar. Selbst wenn Leistungsausschlüsse hinreichend formuliert sind, werden sie im Massenschadenbereich oft nicht konsequent durchgesetzt. Im Zusammenhang mit Konsumentenschutzbewegung im EU-Umfeld wird das Underwriting gewärtigen müssen, dass Regulatoren und Gerichte eingreifen. Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit ist daher unabdingbar, um das Underwriting auf eine neue Grundlage zu stellen. Tarifierung und Risikoprüfung sollten möglichst evidenz-basiert sein. Verwendete Grundlagen bei Krankenzusatzversicherungen und Produkten zur Absicherung des Versicherten bei Erwerbsunfähigkeit sollten die longitudinale Dynamik der mit Morbiditätsveränderungen assoziierten Kosten besser widerspiegeln. Voraussetzung dafür für den einzelnen Versicherer ist - neben regelmässigen Updates über den Stand der Medizin - die gründliche Analyse des eigenen Schadenportfolios und der Einsatz dynamischer IT-gestützter Tools ist notwendig.

Es stellt sich jedoch die Frage, warum man etwas ändern sollte, wenn die Schadenquoten in der Krankenzusatzversicherung doch noch so gut sind. Sind risikogerechte Prämien im Markt durchsetzbar? Falls ja - ist der administrative Aufwand beim differenzierten, evidenz-basierten Underwriting für Produkte nicht zu hoch? Zumal die Prämien erhöht werden können? Unklar ist, ob bei der wachsenden Vielzahl von Diagnosen mit Leistungsausschlüssen eigentlich überhaupt noch jemand ohne Leistungsausschluss versichert werden kann. Wäre es möglich, dass irgendwann niemand mehr zu normalen Bedingungen angenommen werden kann? Doch wofür gibt es dann eine Normalprämie? Wie kann ein Underwriter die longitudinale Dynamik von Eintretenswahrscheinlichkeit und Schadenhöhe einschätzen, wenn die mittlere Vertragsdauer der verbleibenden Lebensdauer des Antragsstellers entspricht? Welche Daten müssten für Risikoprämien bei Morbiditätsprodukten berücksichtigt werden, um zu einem auf evidenz-basierten Underwriting-Entscheid zu gelangen?

Beispiele:

Inadäquate Leistungsausschlüsse bei divergierenden Spital- und ambulanten Kosten

Bei zahlreichen Diagnosen sind Leistungsausschlüsse sowohl für Spitalzusatzversicherungen als auch für ambulante Zusatzversicherungen gleich formuliert. Spitalmorbidität und die Morbidität ambulanter Leistungen verlaufen bei vielen Krankheiten aber nicht parallel, so z.B. beim Asthma bronchiale. Die Kostenentwicklung beim Asthma hat sich anders entwickelt, als es berechnet wurde. Die Behandlungsansätze durch Patientenschulung und wirksame Medikamente hat nicht nur zu einer Verringerung von Hospitalisationen, sondern auch in der ambulanten Behandlung zur Kostensenkung geführt. Richtig gemanagtes Asthma ist nicht mehr die gefährliche, teure Krankheit, die es noch bis Ende der 80er Jahre war. Es gibt aber ein Kundenverhalten bei einigen Asthmatikern, die vermehrt komplementärmedizinische Leistungen und Lifestyle-Produkte konsumieren. Wäre daher eine Risikoprämie für Spitalzusatzversicherungen und allenfalls ein Leistungsausschluss für Lifestyle-Produkte nicht angemessener?

Unangemessene analoge Leistungsausschlüsse bei ähnlichen Diagnosen

Bei einigen Diagnosen spiegelt die empfohlene Underwriting-Massnahme bzw. der Leistungs-ausschluss nicht die medizinische Entwicklung. So wird beim Ulcus ventriculi oder duodeni ein analog formulierter Leistungsausschluss auf diese Erkrankung und ihre Folgeleiden vorgeschlagen. Ulcus duodeni ist zu 90% und Ulcus ventriculi zu etwa 60% der Fälle eine heilbare Infektionskrankheit, ausgelöst durch das Bakterium Helicobacter pylori und heilen bei erfolgreicher antibiotischer Eradikation, welche je nach Studie in über 80% der Fälle erzielt wird, vollständig und ohne Folgen ab. Folgeleiden und damit weitere Kosten werden in aller Regel nicht ausgelöst. Ein Leistungsausschluss für "Ulcus duodeni und Folgeleiden" ist somit beim evidenz-basierten Vorgehen im Underwriting nicht haltbar.

Unangemessene analoge Leistungsausschlüsse bei ungleichen Aetiologien

Magengeschwüre sind in ca. 40% der Fälle Folgen von Alkoholkonsum oder von der Einnahme nicht-steroidaler Entzündungshemmer. In diesen Fällen könnten durchaus umfangreiche Folgekosten entstehen. Lohnt es sich bei jedem Antragssteller einen Arztbericht zu bestellen, um die Art und Ursache des Ulcus zu erfahren? Wären die Normalannahme für das Ulcus duodeni oder ein Prämienzuschlag für die mittlere "Übermorbidität" der Krankheitsuntergruppe Ulcus ventriculi nicht das wirtschaftlichere Vorgehen?

Leistungsausschlüsse bei schwer abgrenzbaren Diagnosen

Diese sind besonders schwierig zu beurteilen und zu begründen - Beispiele gibt es viele, von unklaren Abdominalbeschwerden bei Versicherten, die eine bekannte Laktoseintoleranz haben, bis hin zu HIV-Positiven, deren mittelschwere depressive Episode sowohl durch die HIV-Positivität, wie durch andere Faktoren bedingt sein könnte.

Während die Medizin längst nicht mehr dem bio-psycho-sozialen Krankheitsmodell anhängt, nicht mehr zwischen extrinsischen und intrinsischen Erkrankungen unterscheidet und keine willkürliche Grenzziehung zwischen psychisch und somatisch mehr macht, basiert die Rechtsprechung noch darauf. Dies schafft ein Dilemma, welches Versicherungsjuristen und -mediziner kaum überbrücken können.

Schweizerische Gesellschaft der Vertrauens- und Versicherungsärzte

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