Schweizerische Gesellschaft der Vertrauens- und Versicherungsärzte

14 Evidence based Medicine in Versicherungsmedizin

Neu, 3. Auflage, Mai 09

Evidence based Medicine (EBM) zwischen Hypothese und Wahrheit

Naturwissenschaftliches Forschen in der Medizin im Sinne der kartesianischen Zerteilung der Maschine Mensch basiert auf Hypothesen, welche in sämtlichen Schichtungen der Natur (Individuum, Organ, Zellen, Zellorganelle, genetische Struktur) letztlich postuliert worden sind. Die auf dieser Basis erfolgten Errungenschaften der Schulmedizin sind eindrücklich und ermöglichen rationale Entscheidungen. Sie können aber nur die Frage beantworten, wie etwas und nicht warum etwas entsteht oder funktioniert. Unsere Entscheidungen basieren somit auf Wirkungshypothesen.

Den Patienten interessieren jedoch nicht Hypothesen, sondern Wahrheiten. Er möchte in erster Linie wissen, mit welcher Gewissheit eine diagnostische oder therapeutische Massnahme dazu verhelfen kann, seine Fähigkeiten zu verbessern oder zumindest zu erhalten. Wieviel Wahrheit liegt hinter der Hypothese, ein Cholesterinwert müsse gesenkt werden, die Knochendichte müsse erhöht werden, das instabile Knie müsse operativ stabilisiert werden, der Test zur Krebsfrüherkennung müsse bei allen regelmässig vorgenommen werden? Wie weit gelingt es nun der klinischen Forschung, den gewünschten, eigentlichen Patientennutzen mit den geeigneten Studien bestmöglich plausibel zu machen? Wieweit wird lediglich z.B. ein „unpässlicher“ Laborwert oder ein EKG-Befund behandelt?

In der Geschichte der Evidence based Medicine (EBM) bleibt eine Studie über die Behandlung von Herzrhythmusstörungen unvergesslich. Durch Verabreichung eines Medikamentes ist es gelungen, den unregelmässigen Herzschlag in einen schönen Sinusrhythmus umzuwandeln. Die Freude über diese Errungenschaft hat solange angehalten, bis jemand auf die Idee gekommen ist, ein vergleichbares Kontrollkollektiv ohne das Medikament hinsichtlich der Mortalität zu untersuchen. Zum Erstaunen vieler haben die Nicht-Behandelten länger überlebt (CAST-Studie). Eine EKG-Kurve dient somit als ein Surrogat oder Epiphänomen.

Die Zahl wissenschaftlicher Studien in der Medizin ist unüberschaubar und somit ein Indiz dafür, dass die meisten Fragen nur schwer schlüssig zu beantworten sind.

Die Studien, welche der Wahrheit am nächsten kommen sollen, befassen sich mit der Frage der Kausalität, sowohl bezüglich der Krankheitsentstehung, als auch bezüglich der bestmöglichen Therapie. Kausalitäten lassen sich weitgehend nur in physikalischen Experimenten nachweisen, wo die Gesetze von Ursache und Wirkung gelten. Derartige Experimente sind an der unbelebten Materie meistens einfach und jederzeit wiederholbar durchzuführen.

In der Medizin ist die zu beobachtende und zu beeinflussende Materie belebt, d.h., es passiert jeden Tag eine Gesundung, eine Aktualisierung eines neuen gesundheitlichen Gleichgewichts, unabhängig davon, ob interveniert wird oder nicht. Der therapeutisch Handelnde muss sich jederzeit bewusst sein, ob ein gutes Resultat trotz oder wegen einer Intervention zu Stande kommen kann. Ein zeitgemässes Heilungsverständnis erfordert somit stets die Mitberücksichtigung des Gold-Standards der „Natural History“. Der Einsatz einer medizinischen Massnahme soll letztlich besser sein als die natürlichen Heilungsvorgänge, wenn der Patient einen eigentlichen therapeutischen Nutzen erfahren will.

Die Erkenntnisse aus der medizinischen Literatur und aus dem klinischen Alltag sind wesentlich stärker geprägt von Korrelationen, von Zusammenhängen. Korrelationen können fehlen, schwach oder stark sein. Die stärkste Korrelation kann, aber muss nicht gleichbedeutend mit der Kausalität sein, wie das berühmte Beispiel von Rosen et al. zeigt (Abb.1). In einer Bevölkerungsgruppe A tragen 20% einen Hut und 20% haben Lungenkrebs. In einer Bevölkerungsgruppe B tragen 40% einen Hut und 40% haben Lungenkrebs. In einer Gruppe C betragen die jeweiligen Raten 60%. Die Darstellung dieses strengen, linearen Zusammenhanges zwischen Huttragen und Lungenkrebs legt nahe, dass folglich die Hutfabriken zu schliessen seien. Deren Direktoren wehren sich aber zu Recht mit der Gegenbehauptung, dass das Tragen von Hüten vor Lungenkrebs schütze und belegen das mit der entsprechenden Aufzeichnung im oberen Teil der Abbildung.

Der Umwelttrugsschluss (nach Skrabanek und Rosen et al. [4]).

Abb. 1: Strenge lineare Korrelation heisst nicht unbedingt Kausalität

Die Evidence based Medicine, welche „Dinge in der Medizin miteinander in eine Beziehung bringt“, befasst sich intensiv mit den Fragen nach Kausalität und Korrelation, was letztlich auch die Studienhierarchie mit den jeweiligen Limitierungen der Aussagemöglichkeiten prägt (Abb.2). Dieses Spannungsfeld zwischen Korrelation und Kausalität erzeugt eine Faszination in der Interpretation der Studien, welcher man sich, einmal angesteckt, kaum mehr entziehen kann. Wer sich mit der wissenschaftlichen Methodik der EBM, auch klinische Epidemiologie genannt, vertieft auseinandersetzt und an zahlreichen Beispielen selber erfährt, mit welch wissenschaftlich fragwürdigen Methoden gewisse Wirkungshypothesen in ein Kausalitätskorsett gezwängt werden und wie der vermeintliche Nutzen häufig irreführend kommuniziert wird, kommt nach einer kurzen depressiven Phase unweigerlich in einen anderen Lebensabschnitt. Bei diesen Enttäuschungen soll aber immer wieder vor Augen gehalten werden, dass es sich in der Regel nicht um böswillige Absichten des Forschers handelt, wenn er im Bann seiner Idee eine für ihn optimale Darstellungsform seiner Resultate wählt. Einer der Pioniere der klinischen Epidemiologie, Alvan Feinstein, hat schon früh darauf hingewiesen, dass das kartesianisch-naturwissenschaftliche Forschen auf der irrigen Annahme basiert, dass man der Wahrheit stets näher komme, je mehr man den Menschen zerteile. Der Physiker Albert Einstein soll angeblich eines Tages erkannt haben, dass nach Auflösung der Materie als nächste Stufe nur noch die Philosophie ihm weiterhelfen könne. Die EBM hat eine zur kartesianischen Denkkultur umgekehrte, eine integrative Zielsetzung. Sie befasst sich ausschliesslich mit der Frage, ob die Wirkungshypothesen der Grundlagenwissenschaften in der Patientenrealität ihre Gültigkeit haben. EBM soll vornehmlich ein Hilfsmittel zur Interpretation von wissenschaftlichen Daten sein, ein Hilfsmittel, um die klinisch relevanten Fragen der Fähigkeitsveränderungen, welche den Patienten in seiner individuellen Situation einzig interessieren, besser beantworten zu können.

Studienhirarchie zwischen Kausalität und Korrelation

EBM und Versicherungsmedizin

Warum sollte gerade ein Versicherungsmediziner etwas von EBM verstehen? Schliesslich hat er ja zahlreiche Mathematiker und Statistiker um sich geschart, welche sämtliche Risiken zu kalkulieren verstehen. Er kann sich zudem jederzeit Expertenmeinungen der Fachspezialisten beschaffen.

Bedeutungsvoll scheint der Stellenwert eines unbeeinflussbaren oder allenfalls beeinflussbaren Patientenmerkmals wie Geschlecht, Rasse, Alter, Bildung, Lebensgewohnheiten in der Resultatbewertung. Erschreckend häufig findet man Lehrmeinungen über Patientennutzen, welche den prädiktiven Wert eines solchen demographischen, psychosozialen oder dem Schweregrad der Schädigung entsprechenden Patientenmerkmals bei der Beurteilung einer Intervention nicht gebührend mitberücksichtigen. Der Behandlungserfolg wird gerne auf die Intervention zurückgeführt. Dabei hat man sich in diesen Studien auf eine positive Selektion konzentriert, bei welcher auch ohne Intervention das gleiche Resultat hätte erreicht werden können. Schlechte Risikomerkmale werden gar nicht einbezogen, da sie mit oder ohne Intervention schlechtere Ergebnisse erzielen. Die Bedeutung und das Ausmass von prädiktiven Werten einzelner Patientenmerkmale sind oftmals derart eindrücklich, dass eine vertiefte Auseinandersetzung in dieser Thematik durch den Versicherungsmediziner, welcher sich mit Patientenrisiken befasst, gerade als dringlich zu betrachten ist.

Die Vertreter der Versicherungsmedizin sind bekanntlich häufig mit den „Wahrheiten“ konfrontiert, wie sie „post festum“ eingetreten sind. Sie werden speziell dann gerufen, wenn die Erwartungen von Arzt und Patient auseinandergedriftet sind und diesbezüglich Erklärungsbedarf entsteht. Es ist schwer abzuschätzen, mutmasslich aber doch von immenser Dimension, wie viel Reibungsverluste dadurch in endlosen „Schwarz-Peter-Spielen“ entstehen, solange die Interpretation von Studien nicht mit den patientengerechten Kriterien der EBM vorgenommen wird.

Viele Versicherungsmediziner erstellen Gutachten. Dabei muss gelegentlich auf die Fachliteratur abgestützt werden. Wie unbefriedigend muss es sein, wenn man die Kompetenz nicht mitbringt, in der Literatur die Spreu vom Weizen trennen zu können. Es verwundert nicht, wenn selbst hochkarätige Experten in ihren Beurteilungen diametral auseinanderliegen und sich nach Überprüfung der jeweiligen zitierten Arbeiten herausstellt, dass einer der Experten vorwiegend „so-what“-Studien aufgeführt hat (siehe Konsequenzhierarchie in Abb.3).

Beurteilung der Evidenz

Abb. 3 Hierarchie der Konsequenzen aus einer Studie

Versicherungsmediziner arbeiten auch für UVG/IV/MV-Institutionen. Diese Versicherer vergüten die Leistungserbringer nach dem Naturalleistungsprinzip. Die Versicherer haften jedoch selber für das Resultat. Dennoch halten sie sich vornehm zurück, den Fachgesellschaften Behandlungsempfehlungen abzugeben. Bekanntlich neigen Fachgesellschaften dazu, Verhaltensänderungen sehr zurückhaltend und sorgfältig abzuwägen, mitunter erst auf Druck von aussen, zumal sie nicht selten eng mit Forschung und Industrie verbandelt sind.

Man darf abschliessend wohl zu Recht die Frage stellen, ob die fundierte methodische Weiterbildung in der EBM-Technik nicht zu den obersten Prioritäten für alle Vertreter der Versicherungsmedizin gehören soll.

Statistische Signifikanz und klinische Relevanz

EBM wird gerne mit Statistik gleichgesetzt. Die Statistik versucht, die Wahrheit bestmöglich in Modellen rechnerisch und graphisch abzubilden, um die Irrtumswahrscheinlichkeiten der Messdaten gering zu halten.

EBM beschäftigt sich hingegen stark mit der klinischen Relevanz. Es gibt Studien mit hoher statistischer Signifikanz, jedoch geringer klinischen Relevanz und umgekehrt. Man kann sogar eine direkte reziproke Korrelation erkennen. Wenn z.B. für eine Vergleichsstudie zweier Medikamente sehr hohe Fallzahlen eingeplant werden müssen, um letztlich eine statistische Signifikanz zu erreichen, dann ist die klinische Relevanz des Ergebnisunterschiedes dieser beiden Medikamente oftmals sehr gering. Wenn dann die Signifikanz immer noch nicht erreicht sein sollte, entscheidet man sich zwecks Fallzahlerhöhung zu einer Meta-Analyse, um die erhoffte Signifikanz zu dokumentieren. Studien mit sehr hohen Fallzahlen machen gemeinhin grossen Eindruck, weisen aber auf ein eher unbedeutendes medizinisches Problem hin. Bevorzugt wird diese Art von Nutzenkommunikation mit den statistischen Signifikanzen, welche die Eintrittspforte in den wissenschaftlichen Olymp öffnen sollen, speziell von der Pharmaindustrie. Diese befindet sich heute in einem harten Marktverdrängungswettbewerb im Bereich oder jenseits der maximalen Nutzengrenze. Die Beurteilung der klinischen Relevanz ist hingegen eher Sache des einsamen Praktikers, welcher angesichts der „individuellen Wirklichkeit“ eine Einzelentscheidung treffen muss.

Normwerte und ihre Tücken

Zur klinischen Relevanz (Klinimetrie) in der Praxis gehört auch die Beurteilung einer Ergebnisvariablen bezüglich Bedeutung für den Patienten selbst. Oft werden Surrogate der Organebene als Outcome-Faktoren eingesetzt, welche den Patienten nicht interessieren z. B. Laborwerte, Blutdruckmessung, Body Mass Index, EKG-Befund, Röntgenwinkel, Knochendensitometrie. Sie sollen bei Gesunden das Krankheitsrisiko abbilden. Die Grenze von gesund zu krank wird willkürlich meist dort festgelegt, wo die doppelte Standardabweichung einer Gauss’schen Normverteilungs-Kurve liegt. Nicht selten werden Daten von gesunden 20-jährigen Probanden zur Bestimmung der Normverteilung als Referenz gewählt. Alles, was sich mit dem Alter verändert, wird dadurch automatisch zu einem Krankheitsrisiko, so dass man Gefahr läuft, die normale Alterung als die Volkskrankheit Nr. 1 anzuerkennen! Alter erzeugt somit Hypertoniker, Osteoporotikerinnen, Arteriosklerotiker, Arthrotikerinnen, sehr zur Freude der Produzenten.

Pädiater werden hellhörig, wenn sich ein Kind bezüglich Körpergewicht oder Körpergrösse von der 10. auf die 50. Perzentile zubewegt. In der gängigen medizinischen Denkweise nennt man dies eine Normalisierung des Messwertes. Die „pädiatrische Denkweise“ sollte eigentlich dazu animieren, eher dann von einem krankhaften Wert zu sprechen, wenn jemand seine Perzentile verlässt! Vorläufig sind wir jedenfalls noch nicht soweit, den Menschen mit mehr als 195 cm Körpergrösse eine beidseitige Verkürzungsosteotomie zu empfehlen.

Die Normkurvenwerte müssten in diesem Licht immer wieder kritisch hinterfragt werden. Leider sind altersabhängige Normkurvenwerte (z.B. für den Blutdruck) kaum mehr herzustellen, da die meisten ja bereits behandelt sind. Bei der Knochendichtemessung liegen altersabhängige und nach Geschlecht getrennte Kurven vor, sie sind leider jedoch nicht nach Körpergewicht geordnet, so dass es nicht verwundert, wenn gesunde Frauen mit seit Jahrzehnten tiefem Körpergewicht und demzufolge tiefem Messwert der Knochendichte als Risikopatientinnen angesehen werden.

Solcherlei Fragen gehören zum Standardrepertoire der EBM-Denkschule und damit eigentlich zur medizinischen Grundausbildung.

Patientenrelevante Endpunkte und ICIDH (ICF)

Um den Fragestellungen der Patienten gerecht zu werden und EBM zu verstehen, ist eine Auseinandersetzung mit den gängigen medizinischen Klassifikationen unausweichlich. Dabei werden die Limiten der am häufigsten eingesetzten ICD-Klassifikation drastisch vor Augen geführt. Die Internationale Klassifikation der Krankheiten (ICD) basiert auf dem Krankheitsentstehungsprinzip (Pathogenese) und vermag als gute Klassifikation für die Organschädigung zu dienen. Zu mehr reicht sie aber nicht. Sie kann nichts über die Krankheitsfolgemanifestationen aussagen, wie der Betroffene mit einer Organschädigung umgeht, welchen Fähigkeitsverlust er als Individuum dadurch erleidet und in welchem Ausmass er durch den Fähigkeitsverlust in der Gesellschaft benachteiligt ist. Dieses Prinzip der Gesundheitsentstehung (Salutogenese) prägt das Verständnis von EBM ganz entscheidend, da nur in den Evaluationen der Individuumebene (Fähigkeiten) und Gesellschaftsebene (Beeinträchtigungen oder Benachteiligungen) die Interessen der Patienten liegen. Die konsequente Anwendung dieser ICIDH-Klassifikation (International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps, 1980 entstanden) ist heute leider immer noch zu wenig verbreitet (Abb. 3). Die heute als eher unbedeutende Modifikation eingesetzte Klassifikation der ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) mit praktisch denselben Grundlagen hat die Verbreitung nicht wesentlich vorangetrieben.

Abb. 4 Der Übergang von der ICD zur ICEDH (ICF)

Der Score-Bias

Bei der Bewertung des Interventionsnutzens, speziell bei Operationsresultaten, sind wir oftmals der Gefahr ausgesetzt, einem Score-Bias zu unterliegen. Basis für das Verständnis bildet die ICIDH (ICF). Der Score-Bias kann auftreten, wenn in einem Score (mit meistens maximal 100 Punkten) Messwerte der Organebene mit Messwerten der Individuumebene vermischt werden. Bei den gängigen Knie-Scores bestehen durchschnittlich 70% aus Komponenten der Organschädigung wie Stabilitätstest, Beweglichkeit, Schwellung, Schmerz (als sensorische Schädigung!), Hinken als Ausdruck einer anatomischen oder funktionellen Störung und nur 30% aus Komponenten der Individuumebene wie Gehfähigkeit, Sportfähigkeit, Alltagsfähigkeit. Organschädigungen interessieren nur den Arzt und werden in der Regel auch in seinem Sinne durch die Intervention positiv verändert, was grossen Punktezuwachs bedeutet. Hingegen können dahinter für den Patienten wichtige Fähigkeitsverluste verborgen sein, welche aber wegen ihrer geringen quantitativen Bedeutung das Gesamtresultat nicht wirklichkeitsgetreu abzubilden vermögen. Seit vielen Jahren krankt die Begründung für operative Rekonstruktionseingriffe am Knie unter diesen Verzerrungen der Nutzenkommunikation.

Einsatz der Wirkungsgrössen

In internistischen Fachgebieten, wo vornehmlich Medikamentenstudien zu überprüfen sind, herrschen ebenfalls Gepflogenheiten, den Nutzen einer Intervention auf raffinierte Art mitzuteilen. Die Kenntnis und die patientengerechte Anwendung der Wirkungsgrössen gehört zu einem zentralen Anliegen der EBM. Was soll der Praktiker mit einer Mitteilung anfangen, dass durch eine bestimmte Massnahme wie z.B. eine 3-wöchige Einnahme eines Antirheumaticums bei Kreuzschmerzen der Schmerz auf der 10-Punkte-Visual-Analog-Skala signifikant von 4,8 auf 4,1 hat gesenkt werden können? Hilfreicher wäre der Einsatz der Wirkungsgrössen. Dies setzt voraus, dass das klinisch relevante unerwünschte Ereignis zuerst genau beschrieben wird: z.B. Anzahl Patienten, welche wegen der Schmerzen nicht zur Arbeit können. Die Untersuchung zeigt sodann, dass durch die medizinische Massnahme die Inzidenz von 42% um 15% auf 27% zurückgegangen ist. Mit dieser absoluten Risikoreduktion von 15% lässt sich eine Number needed to treat (NNT) von 7 berechnen, d.h., es müssten 7 Patienten drei Wochen medikamentös behandelt werden, um ein einziges unerwünschtes Ereignis zu vermeiden, entsprechend die eine Person an den Arbeitsplatz zu bringen. Es ist rasch ersichtlich, dass diese Art von Nutzendarstellung bald einmal eine nachvollziehbare Kosten-Nutzen-Berechnung ermöglicht.

Die irreführende relative Risikoreduktion

Der Kampf gegen eine Nutzenkommunikation mit den relativen Risikoreduktionen ist ein trauriges Kapitel für sich. Eine (relative) Risikoreduktion von 33% kann gleichzeitig heissen, dass z.B. eine Komplikationsrate von 60% auf 40% gesenkt wird, was klinisch sicher bedeutsam ist, oder aber auch von 0,06 auf 0,04%, was klinisch wenig relevant ist und erst noch einem Zufallswert entsprechen dürfte. Es gehört zu den traditionsreichen Gepflogenheiten der Industrievertreter, dass sie bei Arztbesuchen auf den Hochglanzprospekten ihre Erfolge in Diagnostik und Therapie in relativen Risikoreduktionen ausdrücken, da diese in der Regel weitaus mehr Eindruck machen. Sollten ausnahmsweise primär absolute Risikoreduktionen im Fokus der Fragestellung stehen, so werden eher Studien an Hochrisikogruppen durchgeführt, da bei diesen im Gegensatz zu tiefen Risikogruppen höhere absolute Risikoreduktionen bzw. tiefere NNTs zu erwarten sind, was den höheren Medikamentenpreis dann eher rechtfertigt. Erst im Nachhinein werden dann die Indikationen auf die Tiefrisikogruppen erweitert.

Generell kann ausgesagt werden: mit der relativen Risikoreduktion lässt sich die biologische Wirkung einer Massnahme darstellen. Der eigentliche Nutzen, welcher das Vorbehandlungsrisiko bzw. die klinische Situation miteinbezieht, kann nur mit der absoluten Risikoreduktion erfasst werden. Leider hat sich die Ärzteschaft in dieser Hinsicht viel zu lange irreführen lassen und tut dies unbedarft weiter.

EBM-Methodiker als „Gegner“

Die „babylonische Sprachverwirrung“ um Risikoreduktionen prägt die vielfach emotional geführten medizinischen Diskussionen und vermittelt dann das Bild der Zerstrittenheit unter den „Experten“ in der Öffentlichkeit. Dabei verwenden diejenigen, welche sich der EBM-Methodik befleissigen, genau die gleichen Zahlen, wie diejenigen, welche ihrer Diagnosetechnik oder Behandlungsart zum Durchbruch verhelfen möchten. Die Daten werden lediglich unterschiedlich interpretiert und kommuniziert. Bei einem Karzinom-Screening spricht der Fachspezialist von einer Senkung der Sterblichkeit von 25% dank der Früherkennung. Der Methodiker schaut sich die gleiche Tabelle an und stellt fest, dass eine einzige Person von 1'000 in 10 Jahren von der Früherkennung profitieren könnte, ähnlich dem Risiko, dass auch eine dieser untersuchten Personen in 10 Jahren auf der Fahrt an die Abklärungsstelle im Verkehr verunglücken könnte. Der Statistiker seinerseits kommt zum Schluss, dass dieser Ergebnisunterschied statistisch nicht signifikant ist. Alle haben Recht. Der Unterschied liegt nicht in der Sache selbst, sondern wie man ein Risiko kommuniziert. Die Ergebnisse sollen so präsentiert werden, dass jeder einzelne Patient in die Entscheidung des Risikos einbezogen werden kann. Heutzutage haben Methodiker leider immer noch einen schweren Stand, bekommen aber mit zunehmender Routine ein dickeres Fell.

Die Ablehnung der Methodiker hängt sicher mit durchaus nachfühlbaren Ängsten zusammen, liebgewordene Diagnose- oder Therapiemethoden würden in Frage gestellt und dann abgeschafft. In diese Einschätzung passt auch die Erfahrung, dass zur Einführung einer neuen Methode vielleicht zwei bis drei Fallseriestudien nötig gewesen, zu deren Elimination nach fraglich überzeugenden Ergebnissen mindestens 10 randomisierte Studien erforderlich sind.

EBM-Methodiker werden auch gerne als Behinderer der Forschung und des Fortschritts gebrandmarkt. Es sei aber immer wieder darauf hingewiesen, das es niemandem verwehrt sei, in den Grundlagen zu forschen, intelligente Wirkungstheorien zu erstellen und klinische Anwendungen zu prüfen. Letztlich müssen aber methodisch saubere Studien durchgeführt werden, um den eigentlichen Patientennutzen darzustellen und die Wirkungshypothese auf ihre Gültigkeit zu testen. Dabei gilt es, den Gold-Standard der Natural-History immer im Auge zu behalten.

Schlussfolgerungen und Lernziele einer EBM-Grundausbildung

Ein Umdenken in der Medizin, welche sich mit zunehmender Verknappung der Ressourcen auseinanderzusetzen hat, findet allerorten statt und betrifft auch die Versicherungsmedizin. Die Überprüfung des medizinischen Wissens wird durch die Methodik der klinischen Epidemiologie bzw. der Evidence based Medicine, welche systematische Denkfehler und semantische Tricks schonungslos aufzudecken vermag, ermöglicht. Die Aufrechterhaltung eines rein pathogenetischen Denkens wird einer grossen Belastungsprobe ausgesetzt. Die EBM wird dafür besorgt sein, spezifische von unspezifischen Wirkungen zu unterscheiden, das salutogenetische Denken wahrzunehmen, zu integrieren und aus einer von Analyse und Zerteilung der Materie dominierten Forschung eine andere Form der Wahrheitssuche zu lehren. Zu fordern ist die Verbreitung einer patientengerechten Nomenklatur und Klassifikation (ICIDH bzw. ICF) als gleichzeitige Erfassung des Schädigungsträgers, um auf dieser Basis mit Fähigkeitsassessments die den Patienten interessierenden Fragen zu beantworten. Die Fähigkeit, eine Studie nach dem SPION-Prinzip (Abb.4) zu analysieren, zu werten und die daraus erwachsenden Konsequenzen (Abb.5) hierarchisch zu ordnen, soll systematisch in allen Fachgebieten in Aus-, Weiter- und Fortbildung gefördert werden.

Unverbindlich erfolgt abschliessend eine stichwortartige Auflistung des Grund-Instrumentariums zur kritischen Beurteilung der medizinischen Literatur, wie sie zur Zeit am Winterthurer Institut für Gesundheitsökonomie seit Jahren im Programm steht:

1. Diagnostik

Anhand der Vierfeldertafel Umgang mit den Testeigenschaften (Sensitivität, Spezifität, Likelihood-Ratio) und den Krankheitswahrscheinlichkeiten (Vor- Nachtestwahrscheinlichkeit, Entscheidungsschwelle, Informationsgewinn). Sherlock-Holmes-Methode.

2. Systematik der Studien

SPION-Prinzip (Abb. 4)) für die Literaturanalyse, Studiendesigns und ihre Aussagekraft (Korrelationsstudien, Fallserien, Fall-Kontroll-Studien, Kohortenstudien, randomisierte Studien, Number-of-1-Trials), Hierarchie der Evidenz mit dem Konsequenzen-Rating (Abb. 5).

3. Wirkungsgrössen

Risikoreduktionen, Number needed to treat, Kosten-Nutzen-Analyse auf der Basis von Studien, Äquivalenzpreis

4. Metaanalysen, Fehler erster und zweiter Art

Literaturangaben beim Verfasser

Legenden für die Abbildungen:

Abb. 1: Strenge, lineare Korrelation heisst nicht unbedingt Kausalität

Abb. 2 Studienhierarchie zwischen Kausalität und Korrelation

Abb. 3 Der Übergang von der ICD zur ICIDH (ICF) (Buch von LD Seite 16 unten)

Abb.4 Die SPION-Analyse

Abb.5 Hierarchie der Konsequenzen aus einer Studie (Buch von LD Seite 29)

Abb. 4 Die SPION-Analyse

S Studie um welchen Studientyp handelt es sich?

P Patienten wer oder was wurde untersucht? Einschluss- und Ausschlusskriterien?

I Intervention was wurde gemacht? Alternativintervention?

O Outcome (welche Parameter wurden als patientenrelevant angesehen und wann gemessen?

N Nutzen, Number needed to treat welche Schlüsse ziehen die Autoren aus den Resultaten?

Glossar

http://www.awanet.ch/nv/EBM/Glossar.asp

Schweizerische Gesellschaft der Vertrauens- und Versicherungsärzte

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