Schweizerische Gesellschaft der Vertrauens- und Versicherungsärzte

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Update, 3. Auflage, April 13

Schadenminderungspflicht

Einführung

Schadenminderungspflicht ist ein Modethema. In Zeiten knapper Finanzen und steigender Sozialversicherungskosten erhoffen sich Politik und Gesellschaft von der Schadenminderungspflicht, d. h. der Berufung auf eigenverantwortliches Handeln, namhafte Einsparungen. Ob die Schadenminderungspflicht, wie man sie heute versteht, dies wirklich vermag, muss offen bleiben.

Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf Schadenminderungspflicht im Zusammenhang mit medizinischen Fragestellungen.

Inhalt/Bedeutung

Definition

Schadenminderungspflicht bedeutet, dass die versicherte Person alles Zumutbare selbst vorzukehren hat, um die Folgen ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigung bestmöglich zu mildern.

Ziele der Schadenminderungspflicht

Das Prinzip der Schadenminderungspflicht verfolgt zwei Ziele: die Gesellschaft resp. die Prämienzahlenden vor übermässiger Belastung zu schützen und dem Wohl der versicherten Person selbst zu dienen, indem sie eigenverantwortliches Handeln stärkt und die Integration in die Gesellschaft fördert.

Elemente

Die Schadenminderungspflicht kann sowohl ein aktives Tun (z. B. Mitwirkung, Edition von Unterlagen, Auskunftserteilung, Gebrauch von Hilfsmitteln), ein Dulden (z. B. medizinische Untersuchungen oder Therapie) als auch ein Unterlassen (z. B. Nikotinstopp) beinhalten. Bei der IV wird klar zwischen Mitwirkungspflicht (bei der Abklärung des Gesundheitsschadens) und der Schadenminderungspflicht, bzw. Schadenminderungsauflage (Minderung des leistungsbegründenden Gesundheitsschadens) unterschieden.

Grenzen der Schadenminderungspflicht

Die Schadenminderungspflicht verlangt von der versicherten Person ein bestimmtes Verhalten. Dieses geforderte Verhalten kann jedoch für die versicherte Person unzumutbar sein. Falls Unzumutbarkeit vorliegt, besteht keine Pflicht, sich dem geforderten Verhalten zu unterziehen.

Die Unzumutbarkeit bildet also die Grenze der Schadenminderungspflicht. Sie wägt die Interessen der Allgemeinheit an einer möglichst sparsamen Verwendung der Mittel und die Interessen der betroffenen Person an einer möglichst freien, privaten Lebensgestaltung gegeneinander ab.

Bedeutung der Zumutbarkeit

Zumutbarkeit ist gesetzlich nicht definiert. Zumutbar sind, ganz allgemein gesagt, Vorkehren, die ein vernünftiger Mensch, würde er sich in der gleichen Lage wie die versicherte Person befinden, ergreifen würde, wenn er keinerlei Leistungen zu gewärtigen hätte.

Zumutbare Massnahmen müssen

  • geeignet sein, d.h. überhaupt in der Lage sein, zur Zielerreichung beizutragen
  • erforderlich sein, d.h. unentbehrlich sein, ohne sie ginge es nicht bzw. nicht so gut
  • verhältnismässig sein, d.h. es muss ein angemessenes Verhältnis zwischen dem avisierten Ziel und dem Verhalten, welches man von der versicherten Person verlangt, bestehen
  • Die IV verlangt nur eine Schadenminderungspflicht, wenn der zu erwartende Erfolg die AF voraussichtlich rentenrelevant erhöht. Nur wegen Verbesserung des Leidens ohne Verbesserung der AF wird keine Schadenminderung gefordert

Beurteilung von Schadenminderungspflicht und Zumutbarkeit

Schadenminderungspflicht und Zumutbarkeit sind immer einzelfallbezogen d. h. nach den persönlichen Verhältnissen der versicherten Person zu beurteilen.

Sämtliche Aspekte sind in einer Gesamtsicht aller relevanten objektiven und subjektiven Gegebenheiten zu würdigen.

Durchsetzbarkeit

Schadenminderungspflicht kann man nicht unmittelbar rechtlich durchsetzen oder erzwingen. Sie ist eine reine Obliegenheit. Es handelt sich bei ihr lediglich - aber immerhin - um eine Last, welche die versicherte Person auf sich nehmen muss, um all ihre Leistungsansprüche zu wahren. Wenn sich eine versicherte Person z. B. weigert, sich einer zumutbaren Operation zu unterziehen, kann ihr die Versicherung nicht befehlen, diese vornehmen zu lassen. Sie nimmt mit ihrem Verhalten aber in Kauf, dass die Versicherung die Leistungen kürzt.

Die Versicherung muss die Sanktion ankündigen und zwar, bevor sie der versicherten Person den Rechtsnachteil zufügt. Damit erhält diese die Gelegenheit, sich doch noch in der geforderten Weise zu verhalten bzw. sich über die Auswirkungen ihres Verhaltens klar zu werden. Dieses Verfahren nennt man Mahn- und Bedenkzeitverfahren. Zahlreiche Massnahmen im Zusammenhang mit der Schadenminderungspflicht scheitern daran, dass das Mahn- und Bedenkzeitverfahren nicht oder nicht korrekt durchgeführt wird. Es kann also nicht schaden, wenn von der ärztlichen Seite die Sachbearbeitung gelegentlich an dieses Erfordernis erinnert wird. Wichtig ist u.a., dass die Versicherung die versicherte Person schriftlich abmahnt, eine angemessene Bedenkzeit einräumt und das Verhalten, das man von der versicherten Person erwartet, konkret festlegt.

Anwendungsbereich

Schadenminderungspflicht ist ein allgemeiner Rechtsgrundsatz, der in allen Zweigen der Sozialversicherung und in sämtlichen Verfahrensstadien anwendbar ist.

Wichtigste Rechtsgrundlagen

GesetzesartikelInhalt
BV 6eigenverantwortliches Handeln als Staatsgrundlage
ATSG 21Kürzung/Verweigerung von Leistungen bei vorsätzlicher Herbeiführung des Versicherungsfalles oder anlässlich eines vorsätzlichen Verbrechens oder VergehensPflicht, sich zumutbarer Eingliederung oder Behandlung zu unterziehenunzumutbar sind Massnahmen, die Gefahr für Leben und Gesundheit darstellenMahn- und Bedenkzeitverfahren als Voraussetzung für Sanktionierung
ATSG 28Pflicht zur Mitwirkung und zur Auskunftserteilung
ATSG 31Meldepflicht bei Änderung der Verhältnisse
ATSG 43Pflicht, sich zumutbaren Untersuchungen zu unterziehenbei unentschuldbarer Verletzung der Auskunfts- und Mitwirkungspflicht Nichteintreten oder Beschluss auf Grund der AktenMahn- und Bedenkzeitverfahren als Voraussetzung für Sanktionierung
AVIG 16Definition der zumutbaren Arbeit
AVIG 17Pflicht der versicherten Person, alles Zumutbare zu unternehmen, um Arbeitslosigkeit zu vermeiden/zu verkürzen
BVG 35Kürzung, wenn AHV/IV kürzt, weil die versicherte Person den Versicherungsfall durch schweres Verschulden herbeigeführt hat oder sich einer Eingliederungsmassnahme widersetzt
BVV 2 25Vorsorgeeinrichtung muss Verweigerungen/Kürzungen der UV nicht ausgleichen, wenn Versicherungsfall schuldhaft herbeigeführt
IVG 7MitwirkungspflichtKürzung/Verweigerung von Leistungen bei MissachtungTaggelder und Hilflosenentschädigungen werden weder verweigert noch gekürzt
MVG 18Behandlungspflicht/medizinische Massnahme namentlich zumutbar zu diagnostischen Zwecken und wenn sie mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Besserung verspricht
UVG 37kein Anspruch auf Versicherungsleistungen bei absichtlicher Herbeiführung des Gesundheitsschadens/Todesbei Nichtberufsunfällen Kürzung der Taggelder während zwei Jahren, wenn Unfall grobfahrlässig herbeigeführtKürzung/Verweigerung der Geldleistungen, wenn Unfall bei Ausübung eines Verbrechens/Vergehens herbeigeführt
UVG 82Pflicht des Arbeitgebers zur Unfall-/Krankheits-Verhütung; Pflicht des Arbeitnehmers zur Mitwirkung
UVV 48UVG 37 nicht anwendbar, wenn versicherte Person urteilsunfähig war oder Selbsttötung/Selbstverstümmelung Folge eines versicherten Unfalles ist
UVV 49Kürzung von Geldleistungen bei Nichtberufsunfällen, welche sich bei aussergewöhnlichen Gefahren (z.B. ausländischem Militärdienst, Schlägereien) ereignet haben
UVV 50Kürzung von Geldleistungen bei Nichtberufsunfällen, welche auf ein Wagnis (z.B. Teilnahme Automobilbergrennen) zurückgehen
UVV 55Pflicht zur Auskunftserteilung und zur Vorlage von UnterlagenPflicht, sich Abklärungsmassnahmen zu unterziehen
UVV 61unterzieht sich versicherte Person zumutbarer Behandlung nicht, erhält sie nur Leistungen, welche sie beim erwarteten Erfolg der Massnahme hätte beziehen dürfen
VVG 61Pflicht zur Schadenminderung nach Eintritt des befürchteten Ereignisses

Speziell: Im Bereich der Arbeitslosenversicherung gilt Art. 21 ATSG nicht.

Kriterien der Zumutbarkeit

Einleitung

Wie bereits erwähnt, sind bei der Beurteilung, ob eine Massnahme zumutbar ist oder nicht, objektive und subjektive Kriterien (in einer Gesamtsicht) zu würdigen. Subjektiv heisst aber nicht, dass es darauf ankommt, wie die versicherte Person aus ihrer Optik den Sachverhalt beurteilt. Subjektiv bedeutet subjektbezogen. Das heisst, es geht um Umstände, welche der versicherten Person die an sich mögliche Pflichterfüllung unter einem objektiven Blickwinkel aussergewöhnlich erschweren.

Abschliessend wird darauf eingegangen, wann eine versicherte Person für ihr Verhalten, welches die Schadenminderungspflicht verletzt, verantwortlich ist.

Im Folgenden werden unter dem Begriff Massnahmen vorwiegend medizinische Massnahmen wie Operationen oder Therapien verstanden. Die einzelnen Kriterien werden, soweit möglich, mit einem Beispiel aus der Gerichtspraxis untermalt. Die veröffentlichten Urteile des EVG finden sich anhand der angeführten Verweise (z. B. K 42/04 oder BGE 118 V 107) unter http://www.bger.ch im Volltext.

Objektive Kriterien

keine Gefährdung von Leben und Gesundheit

Die geforderte Massnahme darf zu keiner Lebensgefahr führen. Sie darf keine normalerweise sichtbare Entstellung und keine übermässigen Schmerzen bewirken. Unzumutbar sind Operationen, wenn im Anschluss dauernde Nachbehandlungen erforderlich sind.

Eingriffe müssen erfahrungsgemäss unbedenklich, ihre Risiken vernachlässigbar sein. Damit eine Operation zumutbar ist, muss es sich um eine Routineoperation handeln, welche auch mit keinem erhöhten Narkoserisiko verbunden sein darf.

Bei der Verordnung von Medikamenten ist auch auf mögliche Nebenwirkungen zu achten.

In die Beurteilung einfliessen müssen sowohl das aktuell zu behandelnde Leiden, der Vorzustand wie auch die durch die Behandlung möglicherweise erst entstehenden Leiden.

Bei der Beantwortung der Frage, ob eine Massnahme Leib und Leben gefährdet, ist jeweils vom aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft auszugehen. Im Laufe der Zeit kann sich die Beurteilung ändern, wie das dritte Beispiel aus den frühen 80er-Jahren eindrücklich zeigt.

37j Ballett-Tänzerin mit St. n. Fraktur Dig. III linker Fuss (Zyste/Tumor im Bereich proximaler Epiphyse der Fibula mit Gefahr Spontanfraktur, Instabilität linkes Knie, Kontusion linkes OSG 4/01 mit persistierenden Schmerzen) ist operative Entfernung einer Knochenzyste im linken Fuss zumutbar, da kurzer Eingriff und hohe Erfolgschancen. Stellungnahme BSV Februar 2004
Operative Handgelenksversteifung zumutbar für versicherte Person mit Kontusion/Distorsion der rechten, dominanten Hand.Entscheid EVG vom 1.3.05 (U 287/03)
42j mit Osteochondrose L5/S1, Lumbalsyndrom und M. Scheuermann. Spondylodese (Versteifungsoperation Wirbelsäule) ist zumutbar, da einmütig chirurgisch empfohlen, ungefährlich, voraussichtlich günstiges Ergebnis.ZAK 1985 S. 327
Teilamputation Zeigefinger zumutbar, wenn dadurch Invalidität herabgesetzt wird.Rumo-Jungo, Rechtsprechung zum UVG, 2003, S. 258

Angemessenes Zweck-/Mittel-Verhältnis

Der Zweck, die Sozialversicherung zu entlasten, darf nicht in einem Missverhältnis stehen zu den Mitteln, die dafür eingesetzt werden. Die Sozialversicherung hat darum stets das mildeste Mittel zu wählen, welches bei Abwägung aller Umstände Erfolg verspricht.

Die Anforderungen, die man an eine versicherte Person stellen darf, sind dort höher, wo umfangreiche Leistungen zur Diskussion stehen (z. B. Rente, Umschulung, kostspielige Behandlung). Wo es hingegen um Einzel-Leistungen geht (z. B. Rollator), hat sich die Versicherung mit der Berufung auf die Schadenminderungspflicht zurückzuhalten.

Eine Operation muss mit Sicherheit oder grosser Wahrscheinlichkeit eine völlige Heilung oder eine wesentliche Besserung des Leidens bewirken. In Bereichen, wo Leistungen im Zusammenhang mit der Arbeitsfähigkeit stehen, hat der Eingriff zudem zu einer relevanten Erhöhung der Arbeitsfähigkeit zu führen. Die zu erwartende Besserung muss stabil und dauerhaft sein.

Vernünftige Zweck-/Mittel-Relation heisst auch, dass eine stationäre Massnahme unzumutbar ist, wenn eine ambulante genügt. Auf der anderen Seite darf die Versicherung aber auch nicht den ambulanten Vollzug verlangen, wenn nur eine stationäre Massnahme Erfolg verspricht.

Kniearthroarthrodese unzumutbar, da bei wegen unbehandelt gebliebener Vorzustände eine völlige Heilung ausgeschlossen und eine erhebliche Besserung des Leidens nicht hoch wahrscheinlich ist.Plädoyer 4/1996 S. 66
Versicherte Person mit Schlafapnoe-Syndrom, arterieller Hypertonie und Adipositas; Krankenkasse muss stationären Aufenthalt nicht übernehmen, da ambulante Behandlung genügt; zudem mangelnde Compliance.EVG-Urteil vom 6.9.04 (K 42/04)
Massvolle Einnahme von Schmerzmedikamenten zur Bekämpfung von Schmerzen nach längerem Sitzen und Stehen ist dem 38j Versicherten mit unspezifischen posttraumatischen Beschwerden nach Beckenring-C-Fraktur und extraperitonealer Harnblasenruptur zumutbar.EVG-Urteil vom 22.4.05 (U 417/04)

Subjektive Kriterien

Wirtschaftliche Verhältnisse

Die finanzielle Situation muss es der versicherten Person gestatten, sich der geforderten Massnahme zu unterziehen. Die Versicherung muss also berücksichtigen, wer diese bezahlt (Krankenversicherer, UV, IV, Haftpflichtversicherung, versicherte Person selbst). Falls die versicherte Person selbst zur Kasse gebeten wird, sind deren finanzielle Verhältnisse abzuklären.

Auch eine namhafte Erwerbseinbusse bei einem Selbständigerwerbenden kann eine Massnahme unzumutbar machen.

Alter der versicherten Person

Das fortgeschrittene Alter einer Person kann die Erfolgsaussichten einer Operation fraglich machen oder zu einer unzumutbar langen Rekonvaleszenz-Zeit führen.

Auch das jugendliche Alter kann eine Rolle spielen. So wird eine Operation mit beschränkten Erfolgsaussichten bei Kleinkindern unter Umständen als unzumutbar qualifiziert, weil sie, im Gegensatz zum Eingriff bei Erwachsenen, eine Vollnarkose erfordert.

60j mit Morbus Menière: Vestibularisneurektomie mit 95% Erfolgschance. Ist unzumutbar: In CH noch wenig durchgeführt, objektiv schwere Operation, bedingt längere Rekonvaleszenz, grosse Belastung, panische Angst des Versicherten vor dem Eingriff. Alter macht Erfolgsaussichten der Operation und volle Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit fraglich.ZAK 1985 S. 325

Familiäre Situation

Auch die familiäre Situation einer versicherten Person kann zu unzumutbaren Verhältnissen führen. Einer Person, welche Kleinkinder zu betreuen hat, ist es in der Regel kaum zumutbar, sich einer mehrwöchigen, stationären Therapie zu unterziehen. Dasselbe gilt wohl für einen Patienten, welcher betagte Angehörige zuhause betreut.

39j Versicherten mit Lungen-Tbc ist die mit der Umschulung verbundene Trennung von der Familie zumutbar. ZAK 1962 S. 436

Körperliche, geistige, psychische und andere persönliche Besonderheiten

In die Gesamtwürdigung mit einzubeziehen sind auch panische Ängste der versicherten Person vor dem Eingriff, schlechte Erfahrungen, welche sie mit der betreffenden medizinischen Einrichtung gemacht hat oder die Tatsache, dass ein Experte voreingenommen ist oder die Untersuchung ablehnt.

Intelligenz, Sprachkenntnisse und Bildungsstand sind bei der Beurteilung der Zumutbarkeit unter Umständen ausschlaggebend. Eine komplizierte Kur kann sich darum für einen bildungsfernen Patienten, welcher die Landesprache nicht spricht, als unzumutbar erweisen.

Ein unverhältnismässig langer Weg zum Therapieort kann eine Massnahme ebenfalls unzumutbar machen.

Unzumutbarkeit einer ophtalmologischen Begutachtung, da der Versicherte trotz chirurgischer Eingriffe die Sehkraft verloren hatte und sich die Ärzte bereits früher zur Arbeitsfähigkeit geäussert hatten. Zudem war der Experte selbst nicht bereit, die Begutachtung durchzuführen.ZAK 1992 S. 126
Einweisung zur Abklärung in psychiatrischer Uni-Klinik ist unzumutbar, weil Versicherter grosse Angst hat, da er früher in dieser Klinik mit Elektroschock behandelt worden ist und dabei eine längere Zeit nicht bemerkte Oberarm-Fraktur erlitten hat.Maurer Alfred, S. 237
Versicherte mit subjektiven Beschwerden bei St.n. vaginaler Hysterektomie muss sich ambulanter psychiatrischer Abklärung unterziehen.ZAK 1983 S. 543
Versicherte Person mit Diabetes mellitus verletzt Schadenminderungspflicht, wenn sie sich nicht an Behandlungsanweisung Arzt hält (Diabetes m. bewirkt keine Arbeitsunfähigkeit); ebenfalls Verletzung Schadenminderungspflicht, da neurotisch-depressive Entwicklung nicht medikamentös behandelt wird, weil gemäss Hausarzt Therapie wegen mangelnder Compliance scheitern würde.EVG-Urteil vom 20.4.05 (I 797/04)

Mitwirkung Dritter

Ist bei einer Therapie die Mitwirkung Dritter unbedingt erforderlich und weigern sich diese Drittpersonen, mitzuwirken, ist die Massnahme unzumutbar. Die persönliche Freiheit der unbeteiligten Dritten geht vor.

51j Versicherte mit chronifizierter, depressiv-paranoider Psychose. Erfolgsaussichten bei einer weiteren Behandlung unter Einbezug Dritter (Familie und Freund). Therapieteilnahme ist Eltern angesichts ihres Alters und abgelegenen Wohnorts nicht zumutbar. Beteiligung des verheirateten Freundes nicht zu erwarten. Therapie undurchführbar, daher von der Versicherten nicht zu verlangen.EVG-Urteil vom 8.3.88 (unveröffentlicht)

Vorwerfbarkeit

Wenn eine versicherte Person sich zumutbaren Massnahmen nicht unterzieht, verletzt sie die Schadenminderungspflicht. Dies hat für sie Folgen, wenn ihr das Verhalten vorgeworfen werden kann. Die versicherte Person muss für ihr Verhalten verantwortlich gemacht werden können.

Vorwerfbarkeit setzt voraus, dass objektiv ein Verschulden, ein Fehlverhalten vorliegen muss. Auch subjektiv muss ein Verschulden gegeben sein, d. h. die betreffende Person muss urteilsfähig sein. Urteilsfähigkeit beinhaltet Einsichts- und Aufnahmefähigkeit sowie die Fähigkeit, gemäss den gewonnenen Erkenntnissen zu handeln.

Die Urteilsfähigkeit ausschliessen können das Alter, das fortgeschrittene wie das jugendliche, eine Geisteskrankheit oder -schwäche oder auch grosse Schmerzen bzw. eine schwere Krankheit, die dem Versicherten kein vernunftgemässes Handeln mehr erlauben.

Die Urteilsfähigkeit ist nicht generell, sondern nur in Bezug auf die konkrete Obliegenheit, welcher die versicherte Person nachkommen müsste, zu beurteilen.

30j widersetzt sich psychiatrischer Untersuchung. Keine Verletzung der Schadenminderungspflicht, obwohl Untersuch objektiv zweckmässig und zumutbar. Unzurechnungsfähigkeit gegeben (schizoide Psychopathie, neurotisch-psychopathische Entwicklung mit Kontaktverlust zur Wirklichkeit).EVG-Urteil vom 2.7.75 (unveröffentlicht)
Bei 42j Versicherter mit Zahnschäden infolge Bulimie ist u. a. zu prüfen, ob Schadenminderungspflicht (genügende Mundhygiene) vom psychischen Leiden her wahrgenommen werden kann. Mundhygiene muss in täglicher Durchführung und bezüglich periodischem Gang zum Zahnarzt zumutbar bleiben; Gutachten einholen, ob Kariesschädigung gemäss persönlicher Verhältnisse objektiv vermeidbar gewesen wäre.EVG-Urteil vom 15.6.05 (K 175/04)
Anspruch eines Heroinsüchtigen auf Langzeitbehandlung mit Methadon kann nicht unter Berufung auf Schadenminderungspflicht verweigert werden, weil Scheitern einer Entwöhnungstherapie nicht auf das Fehlen des guten Willens, sondern auf die Suchtkrankheit selber zurückzuführen ist.BGE 118 V 107/116

Einzelfragen

Somatoforme Schmerzstörung

Die somatoforme Schmerzstörung hat die Versicherungen schon vor zahlreiche Probleme gestellt. Gemäss neuerer Rechtsprechung steht nun aber fest, dass bei der Zumutbarkeitsprüfung von der Vermutung auszugehen ist, dass eine somatoforme Schmerzstörung überwindbar ist.1

Im Einzelfall ist dann zu prüfen, ob und inwieweit diese Vermutung durch Umstände entkräftet wird, welche die Umsetzung der Leistungsfähigkeit unmöglich oder unzumutbar machen. Wieweit die Auswirkungen des Schmerzsyndroms auf die Leistungsfähigkeit mit einer zumutbaren "Willensanspannung" überwindbar sind, entscheidet sich anhand von verschiedenen Beurteilungskriterien. Zu nennen sind namentlich eine auffällige vorbestehende Persönlichkeitsstruktur, eine auf Chronifizierung hindeutende, mehrjährige Krankheitsgeschichte mit stationärer oder progredienter Symptomatik, das Scheitern einer lege artis durchgeführten Behandlung, psychische oder körperliche Begleiterkrankungen, ein hoher Krankheitsgewinn oder ein Verlust der sozialen Integration (Ehescheidung, Arbeitsplatzverlust, sozialer Rückzug, Verlust persönlicher Interessen) im Verlauf der psychischen Erkrankung.

Zu berücksichtigen sind die fraglichen Umstände nur, wenn sie sich beim Versicherten mit einem Mindestmass an Konstanz und Intensität manifestieren. Nicht erforderlich ist, dass sich eine psychiatrische Expertise in jedem Fall über jedes einzelne der genannten Kriterien ausspricht; entscheidmassgeblich ist eine Gesamtwürdigung der Situation.

Suchtkrankheit

Grundsätzlich ist eine Sucht einer zumutbarer Behandlung zugänglich. Sie stellt für sich keinen invalidisierenden Gesundheitsschaden dar, sondern ist erst bedeutsam, wenn sie durch einen solchen Gesundheitsschaden bewirkt wurde oder einen solchen Gesundheitsschaden zur Folge hat.2

Praktisch ist es so, dass Süchte und Begleiterkrankungen derart miteinander verzahnt sind, dass kaum auszumachen ist, was Huhn und was Ei ist. Auch gehen die Lehrmeinungen, bei welchen Patienten welche Therapien durchführbar sind, derart weit auseinander, dass keine allgemeinen Ausführungen möglich sind. Eine brauchbare, wohlbegründete Rechtsprechung hat sich zu diesem Thema (noch) nicht entwickelt.

Unerlässlich ist darum, dass im Einzelfall umfassende, gut begründete ärztliche Stellungnahmen vorliegen, die konkret aufzeigen, warum einer versicherten Person eine Entzugskur zumutbar ist, wie diese aussieht und welchen Erfolg sie voraussichtlich hat.

Alkoholentwöhnungsmassnahmen sind einem Versicherten, der ohne Alkoholabhängigkeit in leichten Arbeiten zu 70% arbeitsfähig wäre, zumutbar; obwohl Alkoholsucht Folge einer dissozialen Persönlichkeitsstörung; Gutachten lasse sich trotz zu erwartender fraglicher Kooperation nicht entnehmen, dass Entwöhnungskur von vornherein erfolglos sei.EVG-Urteil vom 2.11.98 (unveröffentlicht)
35j gelernter Gipser mit Abhängigkeitssyndrom (Polytoxikomanie einschliesslich Opiate) mit pathologischer Persönlichkeitsstruktur muss sich in Nachachtung der Schadenminderungspflicht einer Psychotherapie sowie Entzugsbehandlungen unterziehen.EVG-Urteil vom 5.11.02 (I 758/01)

Übergewicht

Gemäss Rechtsprechung ist eine Abmagerungskur, welche zur Verbesserung der Arbeitsfähigkeit beiträgt, eine zumutbare, schadenmindernde Massnahme.

Fettleibigkeit begründet deshalb grundsätzlich keine zu Rentenleistungen berechtigende Invalidität3, wenn sie nicht relevante körperliche oder geistige Schäden bewirkt und nicht die Auswirkung von solchen Schäden ist. Hingegen muss sie unter Berücksichtigung der besonderen Gegebenheiten des Einzelfalles als invalidisierend betrachtet werden, wenn sie weder durch geeignete Behandlung noch durch zumutbare Gewichtsabnahme auf ein Mass reduziert werden kann, bei welchem das Übergewicht in Verbindung mit allfälligen Folgeschäden keine massgebliche Beeinträchtigung zur Folge hat.

Das EVG hat die Entscheide, in denen es die Zumutbarkeit einer Abmagerungskur bejaht hat, leider nie eingehend begründet. Eine Auseinandersetzung mit dem jeweils aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft wie auch das Eingehen auf sämtliche relevanten Aspekte des konkreten Einzelfalls fehlte.

Die zitierte, lapidare Feststellung der Gerichte ist daher kaum verwertbar. Man kommt folglich im Einzelfall wiederum nicht um eine umfassende Beurteilung sämtlicher Faktoren des Einzelfalles und um eine beweiskräftige ärztliche Stellungnahme herum. Gemäss Rechtsprechung des EVG muss eine solche folgende Fragen beantworten:4

Arbeitsfähigkeit ohne GewichtsreduktionMass der zumutbaren Gewichtsreduktion sowie dafür und für nachfolgende Gewichtsstabilisierung erforderliche ZeitspanneArbeitsfähigkeit während der für die zumutbare Gewichtsreduktion erforderlichen ZeitspanneBeeinflussung der übrigen Gesundheitsschäden durch Abmagerungskur.

Überwindung der durch Persönlichkeitsstruktur mit katastrophierender Interpretation der Beschwerden, Dekonditionierung und Übergewicht bedingten Schwierigkeiten darf im Berufsalltag erwartet werden. EVG-Urteil vom 4.4.05 (I 476/04)

Dekonditionierung

Massnahmen zur Behebung einer relevanten Dekonditionierung hält die Rechtsprechung, wohl korrekterweise, für zumutbar.

Die IV darf ein ärztlicherseits dringend angeratenes 6- bis 8-wöchiges Arbeitstraining bei einem Versicherten mit starken Rückenbeschwerden, Senkfüssen und Adipositas anordnen.Entscheid Versicherungsgericht SG vom 20.1.04 (unveröffentlicht)
IV kann 39j Versicherte mit lumbo- und zervikospondylogenem Syndrom bei WS-Fehlhaltung und Dekonditionierung zu Rehab-Massnahmen (Physiotherapie, Training muskuläre Kondition, psychologische/psychiatrische Betreuung) verpflichten.Entscheid Versicherungsgericht SG vom 12.2.04 (unveröffentlicht)
Bei schwach ausgebildeter Rumpfmuskulatur und Dekonditionierung ist ein langfristig durchgeführtes Kräftigungstraining zur Erhaltung der Restarbeitsfähigkeit sinnvoll und unter den Aspekten von Schadenminderung und Selbsteingliederung auszuschöpfen, wenn solche Massnahmen zur Verbesserung oder Erhaltung der Erwerbsfähigkeit beizutragen vermögen.EVG-Urteil vom 15.7.03 (I 839/02)

Schlussfolgerung

Schadenminderungspflicht ist ein Grundsatz, der einleuchtet und für die meisten Mitmenschen selbstverständlich ist. Er gerät aber gerne in Vergessenheit, wird so unterschiedlich beurteilt oder ist von so vielen Voraussetzungen abhängig, dass fraglich scheint, ob ihm künftig jene Bedeutung zukommt, die man sich von ihm erhofft.

Zudem sind die Erfahrungen im Zusammenhang mit der Schadenminderungspflicht noch sehr gering. Es wäre daher interessant, wenn die Versicherer, nach fundierten Abklärungen, sich vermehrt auf den Grundsatz der Schadenminderung besinnen und dadurch Gerichtsurteile erwirken, die endlich mehr Klarheit schaffen.

Literaturhinweise

Kieser Ueli: ATSG-Kommentar, Zürich-Basel-Genf 2003

Landolt Hardy: Das Zumutbarkeitsprinzip im schweizerischen Sozialversicherungsrecht, Zürich 1995

Locher Thomas: Die Schadenminderungspflicht im Bundesgesetz vom 19. Juni 1959 über die Invalidenversicherung, in: Sozialversicherungsrecht im Wandel, Festschrift 75 Jahre Eidgenössisches Versicherungsgericht, Bern 1992, S. 407

Maurer Alfred: Zumutbarkeit im Sozialversicherungsrecht, in: Sozialversicherungsrecht im Wandel, Festschrift 75 Jahre Eidgenössisches Versicherungsgericht, Bern 1992, S. 221

Rüedi Rudolf: Im Spannungsfeld zwischen Schadenminderungspflicht und Zumutbarkeitsgrundsatz bei der Invaliditätsbemessung nach einem ausgeglichenen Arbeitsmarkt, in: Rechtsfragen der Invalidität in der Sozialversicherung, Schaffhauser/Schlauri, St. Gallen 1999, S. 29


1 EVG-Urteil vom 18.5.04 (I 457/02)
2 AHI 2002 29f
3 EVG-Urteil vom 19.7.01 (I 70/01)
4 EVG-Urteil vom 14.7.00 (I 53/00)

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