Schweizerische Gesellschaft der Vertrauens- und Versicherungsärzte

11 Arbeitsunfähigkeit, Arbeitszeugnis und Gutachten

Update, 3. Auflage, Mai 09

Einige rechtliche Grundbegriffe

Arbeitsversicherungsrecht

Das ATSG definiert die wichtigsten Begriffe im 2. Kapitel (Art. 3ff):

Gemäss Art. 3 gilt als Krankheit «jede Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit, die nicht Folge eines Unfalles ist und die eine medizinische Untersuchung oder Behandlung erfordert oder eine Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat».

Die Arbeitsunfähigkeit (AUF) wird im Art. 6, ATSG, definiert:

«Arbeitsunfähigkeit ist die durch eine Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit bedingte, volle oder teilweise Unfähigkeit, im bisherigen Beruf oder Aufgabenbereich zumutbare Arbeit zu leisten». Zudem: «dass bei langer Dauer auch die zumutbare Tätigkeit in einem anderen Beruf oder Aufgabenbereich verlangt werden kann».

Laut einem früheren BGE „liegt nur dann eine Restarbeitsfähigkeit vor, wenn der Versicherte eine Arbeit ausüben kann, die seinen körperlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten entspricht, nicht aber, wenn die Arbeit, der er nachgeht, offenkundig seine Kräfte übersteigt“.

Artikel 7, ATSG, definiert die Erwerbsunfähigkeit als „den durch Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit verursachten und nach zumutbarer Behandlung und Eingliederung verbleibenden vollständigen oder teilweisen Verlust der Erwerbsmöglichkeiten des Versicherten auf dem in Betracht kommenden ausgeglichenen Arbeitsmarkt“. In diesem Fall kann die Suva gemäss Artikel 78, VUV, beschliessen, „einen Arbeitnehmer, auf den die Vorschriften über die arbeitsmedizinische Vorsorge anwendbar sind, von einer gefährlichen Arbeit auszuschliessen (Nichteignung) oder seine Beschäftigung bei dieser Arbeit unter bestimmten Bedingungen zuzulassen (bedingte Eignung).

Un travail convenable au sens de l’article 16 de l’assurance chômage (AC) est défini comme suit : Grundsätzlich muss der Versicherte zur Schadenminderung jede Arbeit unverzüglich annehmen. Unzumutbar und somit von der Annahmepflicht ausgenommen ist eine Arbeit, die:

  • den berufs- und ortsüblichen Gepflogenheiten und insbesondere den gesamt- oder normalarbeitsvertraglichen Bedingungen nicht entspricht;
  • nicht angemessen auf die Fähigkeiten oder auf die bisherige Tätigkeit des Versicherten Rücksicht nimmt;
  • dem Alter, den persönlichen Verhältnissen oder dem Gesundheitszustand des Versicherten nicht angemessen ist;
  • die Wiederbeschäftigung des Versicherten in seinem Beruf wesentlich erschwert, falls darauf in absehbarer Zeit überhaupt Aussicht besteht;
  • in einem Betrieb auszuführen ist, in dem wegen einer kollektiven Arbeitsstreitigkeit nicht normal gearbeitet wird;
  • einen Arbeitsweg von mehr als zwei Stunden je für den Hin- und Rückweg notwendig macht und bei welcher für den Versicherten am Arbeitsort keine angemessene Unterkunft vorhanden ist oder er bei Vorhandensein einer entsprechenden Unterkunft seine Betreuungspflicht gegenüber den Angehörigen nicht ohne grössere Schwierigkeiten erfüllen kann;
  • eine ständige Abrufbereitschaft des Arbeitnehmers über den Umfang der garantierten Beschäftigung hinaus erfordert;
  • in einem Betrieb auszuführen ist, der Entlassungen zu dem Zweck vorgenommen hat, Neu- oder Wiedereinstellungen zu wesentlich schlechteren Arbeitsbedingungen vorzunehmen; oder
  • dem Versicherten einen Lohn einbringt, der geringer ist als 70% des versicherten Verdienstes, es sei denn, der Versicherte erhält Kompensationsleistungen nach Artikel 24 (Zwischenverdienst); mit Zustimmung der tripartiten Kommission kann das regionale Arbeitsvermittlungszentrum in Ausnahmefällen auch eine Arbeit für zumutbar erklären, deren Entlöhnung weniger als 70% des versicherten Verdienstes beträgt.

Letztlich definieren die Artikel

Art. 9, ATSG, und Art. 4, IVG, definieren die Invalidität als „die voraussichtlich bleibende oder länger andauernde vollständige oder teilweise Erwerbsunfähigkeit. Diese kann Folge von Geburtsgebrechen, Krankheit oder Unfall sein.“

Arbeitsrecht

Sollte der Arbeitnehmer aus Gründen, die in seiner Person liegen, wie Krankheit, Unfall, Erfüllung gesetzlicher Pflichten oder Ausübung eines öffentlichen Amtes, ohne sein Verschulden an der Arbeitsleistung verhindert sein, hat ihm der Arbeitgeber für eine beschränkte Zeit den darauf entfallenden Lohn zu entrichten, samt einer angemessenen Vergütung für ausfallenden Naturallohn, sofern das Arbeitsverhältnis mehr als drei Monate gedauert hat oder für mehr als drei Monate eingegangen ist.

Empêchement de travailler : L’article 324a du Code des obligations (CO) stipule que « 

Résiliation du contrat de travail (art 336c du CO): « pendant un certain temps en cas d’incapacité de travail totale ou partielle résultant d’une ,maladie ou d’un accident, pour autant que cette incapacité ne résulte pas de la faute du travailleur, la période protégée est de :

  • 30 jours au cours de la 1ère année,
  • 90 jours de la 2ème à la 5ème année,
  • 180 jours à partir de la 6ème année de service ».

Au terme de cette période, l’employeur peut donc résilier le contrat de travail, même si l’employé est encore à l’incapacité de travail en raison de sa maladie ou de l’accident.

Strafrecht

Falsches ärztliches Zeugnis (Art. 318 StGB) : «Ärzte, Zahnärzte, Tierärzte und Hebammen, die vorsätzlich ein unwahres Zeugnis ausstellen, das zum Gebrauche bei einer Behörde oder zur Erlangung eines unberechtigten Vorteils bestimmt oder das geeignet ist, wichtige und berechtigte Interessen Dritter zu verletzen, werden mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft. Hat der Täter dafür eine besondere Belohnung gefordert, angenommen oder sich versprechen lassen, so wird er mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldbusse geahndet. Handelt der Täter fahrlässig, so ist die Strafe Busse ».

Zivilrecht

Die DDie Ausstellung eines ärztlichen Gefälligkeitszeugnisses kommt einem unkorrekten beruflichen Verhalten gleich und kann eine Klage bei der Aufsichtsbehörde und eine Disziplinarstrafe zur Folge haben. «Wer einem andern widerrechtlich Schaden zufügt, sei es mit Absicht, sei es aus Fahrlässigkeit, wird ihm zum Ersatz verpflichtet» (Art. 41 OR).

Standesordnung FMH (Art. 34)

«Ärztliche Zeugnisse, Berichte und Gutachten sind Urkunden. Bei deren Ausstellung haben Arzt und Ärztin alle Sorgfalt anzuwenden und nach bestem Wissen ihre ärztliche Überzeugung auszudrücken. Der Zweck der Schriftstücke, das Ausstellungsdatum und ihre Empfänger sind anzugeben».

Das Arbeitsunfähigkeitszeugnis

Es handelt sich um eine medizinische Handlung mit juristischer Bedeutung, welche das Arbeits- und Versicherungsrecht betrifft. Ebenso gilt es für:

Ungeschriebene Verfassungsrechte der Persönlichkeit

  • geschriebene Verfassungsrechte
  • Auftragsrecht
  • Strafrecht
  • Zivilrecht
  • Verfahrensrecht

Zweck des medizinischen Arbeitsunfähigkeitszeugnisses

Von Gesetzes wegen soll das Arbeitsunfähigkeitszeugnis beweisen, dass das Ausüben der beruflichen Tätigkeit:

  • aus medizinischen Gründen unmöglich ist
  • dem Therapieerfolg entgegenwirkt
  • einen Rückfall oder eine Verschlimmerung provozieren könnte
  • andere Personen gefährden würde
  • aus ästhetischen Gründen unmöglich ist

Normen für die Ausstellung eines Arbeitsunfähigkeitszeugnisses

Es gibt keine rechtlichen oder medizinischen Normen, die definieren, was zu einer AUF aus Krankheits- oder Unfallgründen berechtigt. Ebenso wenig enthalten die in der Schweiz geltenden gesetzlichen Bestimmungen Kriterien über den Grad der AUF oder deren Dauer bei einer gesundheitlichen Beeinträchtigung. Allein der Arzt kann darüber entscheiden.

In diesem Zusammenhang beruft er sich insbesondere auf die Art und die Schwere der festgestellten Beeinträchtigung, die beobachteten funktionalen Einschränkungen, die erwartete Entwicklung unter dem Einfluss geeigneter therapeutischer Massnahmen gemäss den gebräuchlichen medizinischen Empfehlungen sowie auf seine Erfahrung als Arzt. Allerdings erweist sich dieses "biomedizinische" Modell in der Praxis als unzureichend, wenn es darum geht, bei über andauernde invalidisierende Beschwerden klagenden Patienten, die mit objektiven Beobachtungsmethoden kaum erklärbar sind, eine AUF zu bewerten. Die medizinische Fachliteratur verweist auf die in hohem Mass wachsende Bedeutung von Faktoren, die keine medizinischen im eigentlichen Sinne sind, aber dennoch ein Hindernis für die Wiederaufnahme der Arbeit darstellen. (G. Waddell Br Med Bull 2006; 1-16).

Nichtmedizinische Faktoren für eine AUF

Faktoren ohne tatsächlichen medizinischen Inhalt, die nicht mit der Krankheit zusammenhängen, sind bei der Beurteilung der AUF nicht zu berücksichtigen. Dies gilt insbesondere bei lange andauernder AUF.

Zu diesen gehören:

  • Alter
  • Sprache
  • Religion
  • ethnische Zugehörigkeit
  • familiäre Situation
  • Bildungsniveau
  • wirtschaftliche Situation
  • Arbeitsmarktsituation
  • soziokulturelle Faktoren
  • Arbeitslosigkeit

Verfassen des Arbeitsunfähigkeitszeugnisses

In formaler Hinsicht ist der Arzt verpflichtet, Zeugnisse in aller Freiheit zu formulieren, d. h. ohne Druck durch den Patienten oder von anderer Seite (z. B. Arbeitgeber, Familie, Sozialdienst, Versicherung).

Inhalt des Arbeitsunfähigkeitszeugnisses

Üblicherweise sind in das Zeugnis nur die für die Empfänger (Arbeitgeber und/oder Versicherung) unbedingt erforderliche Angaben aufzunehmen. Demzufolge sollte das Zeugnis enthalten:

  • Name und Vorname des Patienten,
  • Begriff „Arbeitsunfähigkeit“ sowie Vermerk "Krankheit bzw. Unfall",
  • Beginn und Ende der AUF (auf keinen Fall unbefristet, z.B. „bis auf weiteres“),
  • Grad der AUF (bei teilweiser AUF kann es für den Arbeitgeber nützlich sein zu wissen, ob es sich um einen zeitlichen Prozentsatz oder um eine Leistungsrate handelt),
  • Ausstellungsdatum des Zeugnisses, Stempel und Unterschrift des Arztes.

Wert des Arbeitsunfähigkeitszeugnisses

Das ärztliche Zeugnis hat keinen absoluten Wert. Aus diesem Grund kann es von Seiten des Arbeitgebers oder der Versicherung angezweifelt und eine Beurteilung durch einen andern Arzt angeordnet werden.

Beurteilung der Rechtmässigkeit des Arbeitsunfähigkeitszeugnisses

In der Praxis hat man im Wesentlichen mit der nötigen Sorgfalt, mit gesundem Menschenverstand und nach dem Grundsatz von Treu und Glauben die Angemessenheit und die Dauer der Gültigkeit eines Arbeitsunfähigkeitszeugnisses zu beurteilen (Art. 2/3 OR).

Besondere Situationen der Arbeitsunfähigkeit:

AUF während der Ferien

Üblicherweise ist ein solches Zeugnis mit der nötigen Sorgfalt und nach dem Grundsatz der Logik und des guten Glaubens auszustellen. So sollten nur solche Krankheiten oder Unfälle berücksichtigt werden, die es dem Arbeitnehmer tatsächlich unmöglich machen, in korrekter Weise in den Genuss seines Urlaubs zu kommen, der der Entspannung, Erholung und Regeneration dienen sollte. Folglich ist davon auszugehen, dass eine Krankheit oder ein Unfall von wenigen Tagen und geringer Bedeutung die Ausstellung eines AUF-Zeugnisses nicht rechtfertigt, mit dem Urlaubstage zurückerlangt werden können, von denen der Arbeitnehmer nicht vollständig profitiert hätte.

Betreuung kranker Kinder

Die Betreuung eines kranken Kindes ist Bestandteil der nach den Artikeln 272 und 273 des Schweizerischen Zivilgesetzbuches vorgeschriebenen Umgangspflicht.

Wird ein Elternteil wegen Krankheit eines Kindes an der Arbeitsleistung verhindert, so handelt es sich um eine gerechtfertigte Abwesenheit wegen Erfüllung einer gesetzlichen Pflicht nach Artikel 324a des Schweizerischen Obligationenrechts. In diesem Fall legt er dem Arbeitgeber ein vom behandelnden Arzt des Kindes ausgestelltes Zeugnis vor. Dieses Zeugnis darf nicht eine Krankheit des betroffenen Elternteils bescheinigen, da es sich hier um ein unwahres Zeugnis handeln würde. Der betroffene Elternteil ist nämlich nicht arbeitsunfähig, sondern an der Arbeitsausübung verhindert.

Beschäftigung in Teilzeit

Arbeitslosigkeit

Bei der Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit (AUF) von Arbeitslosen ist wegen der Risiken bei einer Verlängerung der AUF und deren Auswirkungen besondere Sorgfalt geboten. Die Beurteilung der AUF bei dem Arbeitslosen basiert auf den Anforderungen der letzten ausgeübten Tätigkeit. Im Falle einer längerdauernden AUF können auf dem Arbeitsmarkt vorhandene, objektiv zumutbare Tätigkeiten erst nach Ablauf von 6 Monaten berücksichtigt werden.

Der Taggeldanspruch des versicherten Arbeitslosen bei AUF ist in Art. 28 des Gesetzes über die Arbeitslosenversicherung definiert: «Versicherte, die wegen Krankheit (Art. 3, ATSG1), Unfall (Art. 4, ATSG) oder Schwangerschaft vorübergehend nicht oder nur vermindert arbeits- und vermittlungsfähig sind und deshalb die Kontrollvorschriften nicht erfüllen können, haben, sofern sie die übrigen Anspruchsvoraussetzungen erfüllen, Anspruch auf das volle Taggeld. Dieser dauert längstens bis zum 30. Tag nach Beginn der ganzen oder teilweisen Arbeitsunfähigkeit und ist innerhalb der Rahmenfrist auf 44 Taggelder beschränkt.

Taggelder der Kranken- oder Unfallversicherung, die Erwerbsersatz darstellen, werden von der Arbeitslosenentschädigung abgezogen.

Arbeitslose, die ihren Anspruch gemäss Absatz 1 ausgeschöpft haben und weiterhin vorübergehend vermindert arbeitsfähig sind, haben, sofern sie unter Berücksichtigung ihrer verminderten Arbeitsfähigkeit vermittelbar sind und alle übrigen Anspruchsvoraussetzungen erfüllen, Anspruch auf das volle Taggeld, wenn sie zu mindestens 75%, und auf das halbe Taggeld, wenn sie zu mindestens 50% arbeitsfähig sind.

Der Arbeitslose muss seine Arbeitsunfähigkeit bzw. Arbeitsfähigkeit mit einem ärztlichen Zeugnis nachweisen. Die Kantonale Amtsstelle oder die Kasse kann in jedem Fall eine vertrauensärztliche Untersuchung auf Kosten der Versicherung anordnen.

Nachträglich ausgestelltes ärztliches Zeugnis

Der Arzt kann ein Zeugnis auch nachträglich ausstellen, wenn dies vom Arbeitgeber 3-4 Tage nach dem laut Aussage des Arbeitsnehmers krankheitsbedingten Fehlen verlangt wird. In diesem Fall kann der Arzt grundsätzlich die Entscheidung treffen und insbesondere, wenn es sich um seinen eigenen Patienten handelt, ob der Arbeitnehmer drei Tage vorher, je nach den Umständen und der Beeinträchtigung sogar noch mehr Tage vorher, arbeitsunfähig war.

Gemäss den Empfehlungen der FMH (SAeZ 48/1976 und 71/1990) soll das Zeugnis folgende Angaben enthalten:

  • genaues Ausstellungsdatum
  • Datum der 1. Behandlung oder der 1. Konsultation
  • Dauer der AUF

Cave: Ein nachdatiertes, d.h. mit einem früheren Datum versehenes ärztliches Zeugnis ist ein gefälschtes Dokument). Grosse Vorsicht ist für die Ärzte auch bei Kündigungen geboten, wenn sie aufgefordert werden, ein Zeugnis auszustellen, das vor dieser Mitteilung aufgetretene Störungen bescheinigen soll.

Auf telefonischen Wunsch ausgestelltes ärztliches Zeugnis

Manchmal kommt es vor, dass Patienten ihren behandelnden Arzt, dessen Vertretung oder einen ihnen unbekannten Arzt telefonisch um ein AUF-Zeugnis bitten. Trotz aller vorgebrachten plausiblen Erklärungen mahnt die FMH zu besonderer Vorsicht. Handelt es sich um den behandelnden Arzt, sollte dies im Allgemeinen keine Probleme nach sich ziehen, insbesondere, wenn die Bitte im Lauf einer Behandlung erfolgt. Handelt es sich jedoch um einen Patienten, den der Arzt nicht kennt oder der diesen längere Zeit nicht aufgesucht hat, liegt eine laut Verhaltenskodex der FMH verbotene Handlung vor, die einem Gefälligkeitszeugnis, wenn nicht sogar einem gefälschten Dokument gleichkommt.

IV Beurteilung des Grades der AUF

Die Beurteilung der AUF bleibt für den Arzt eine schwierige Aufgabe. Kümmert er sich nicht um das Gesundheitswesen, wird ihm die Dauer einer AUF nebensächlich erscheinen. Es ist aber so, dass eine AUF, die zwei bis drei Tage länger andauert, aufgerechnet über alle AUF den Staat über eine Milliarde Franken im Jahr kostet. Es soll nicht die Aufgabe des Arztes sein, als Anwalt der Versicherungen, der Arbeitgeber oder gar als eine Art polizeilicher Kontrolleur der AUF zu fungieren. Jedoch ist er dafür zuständig, so objektiv wie möglich zu beurteilen, ob der Gesundheitszustand seines Patienten eine Wiederaufnahme der beruflichen Tätigkeit zulässt oder nicht. In diesem Zusammenhang zeigen sowohl klinische Erfahrung als auch Literaturangaben, dass im Falle einer Krankheit oder eines Unfalls die Betroffenen mehrheitlich schnell wieder zu ihrer Arbeit zurückkehren, auch wenn sie noch Symptome verspüren.

Die Grundsätze der ärztlichen Beurteilung der Zumutbarkeit und der Arbeitsfähigkeit“, verfasst von einer Schweizerischen Expertengruppe um M. Oliveri et al sind im Schweiz Med Forum 2006:6; 420-31/48-54 erschienen.

Kurz zusammengefasst: Der Begriff der Zumutbarkeit ist mit einer bestimmten Verhaltensform verknüpft, die wir zu Recht von einer Person erwarten. Aus juristischer Sicht ist der Versicherte verpflichtet, alles in seiner Macht stehende zu tun, um die Auswirkungen seiner Invalidität so gering wie möglich zu halten. Die ärztliche Beurteilung der objektiv zumutbaren Arbeitsfähigkeit basiert vor allem auf drei Hauptaspekten:

  • Belastbarkeitsniveau (Arbeitsschwere, konkrete Einschränkungen, z. B. bezüglich Lasten oder Körperhaltungen bei der Arbeit),
  • Arbeitszeit (Präsenzzeit, Notwendigkeit zusätzlicher Pausen),
  • allfällige weitere Leistungseinbussen (z. B. Arbeitstempo, Qualität, vermehrter Anleitungsbedarf).

Nach Auffassung der Experten „darf die Zumutbarkeit nicht per se durch Schmerzen, die der Patient verspürt, oder durch Diagnosen und Befunde eingeschränkt werden“. Viele Menschen arbeiten mit mehr oder weniger starken Schmerzen oder anderen Symptomen und haben gelernt, damit umzugehen. Massgebend sind vor allem die funktionellen Defizite bezüglich der beruflichen Tätigkeit“. Trotz ihrer Umstrittenheit teilt G. Waddell, einer der international angesehensten Experten auf dem Gebiet invalidisierender osteo-artikulärer Schmerzen, diese Sichtweise. (Br Med Bull 2006; 1-15).

Beurteilungsmodelle der AUF

Beurteilung nach dem "biomedizinischen"Modell

Das „biomedizinische“ Modell, welches die epidemiologischen und pathophysiologischen Kenntnisse der betreffenden Krankheit beinhaltet, ermöglicht es dem Arzt in den meisten Fällen, die AUF adäquat zu beurteilen.

Beurteilung nach dem "biopsychosozialen" Modell

Die Erfahrung zeigt, dass es Patienten gibt, deren AUF andauert, weil sich ihr Gesundheitszustand nicht wie erwartet bessert, obwohl dies mit den angewandten therapeutischen Massnahmen und anhand der klinischen Beurteilung der Fall sein sollte. In diesen Fällen sind schon frühzeitig entsprechende Anzeichen zu erkennen, jedoch nur, wenn der Arzt danach sucht und die Entschlüsselung der Beschwerden nach dem biopsychosozialen Modell vornimmt.

Das Tätigkeitsfeld des Arztes liegt hier in einer Fortsetzung der Balint-Interaktion die aufzeigt, dass funktionelle Beschwerden oder psychogene Überlastungen in den meisten Fällen auf Konflikte des Patienten mit seiner Umgebung zurückzuführen sind. Um dies herauszufinden ist es wichtig, dass der Arzt das Umfeld (Familie, Arbeitgeber) als wesentlichen Bestandteil des ganzen Systems berücksichtigt. Aus der wirtschaftssoziologischen Krise der letzten Jahre entstand eine bedeutende Zunahme affektiver und psychologischer Belastungen, die als Ursache für somatoforme osteoartikuläre Probleme sowie für Angstzustände und Depressionen anzusehen sind. Aus diesen Problemen entstehen Arbeitsunfähigkeiten, die oft lange andauern oder sogar definitiv sind. Die beschriebenen Beschwerden stimmen dann nicht mit den objektiven Feststellungen überein, was zu Missverständnissen und Streitigkeiten zwischen Versicherten und Versicherungen führen kann.

Ausgeprägter als in der Vergangenheit führen diese Störungen, die man als Reaktion auf Veränderungen in der Arbeitswelt und in den zwischenmenschlichen Beziehungen bezeichnen kann, häufiger zu Beschwerden mit Krankheitswert, die dann medizinischer oder psychiatrischer Hilfe bedürfen.

Chronischer Verlauf

Wenn also ein chronischer Verlauf einer Erkrankung eine länger dauernde AUF zur Folge hat ist es wichtig sich daran zu erinnern, dass nicht nur rein medizinische Faktoren dabei eine Rolle spielen.

Die in der Tabelle 1 erfassten Faktoren, die Lumbalgien betreffen, können also analog auch für andere chronische Beschwerden angewandt werden.

Im Falle einer andauernden AUF, die "offensichtlich wenig überzeugend" wirkt, ist es angezeigt, nach Gründen zu suchen, die verschwiegen oder nicht erkannt werden:

  • latenter depressiver und/oder Angstzustand
  • Persönlichkeitsstörung
  • Psychosoziale Stressfaktoren, persönliche Ansichten und eigenes Verhalten
  • Konflikt im Beruf, Mobbing oder narzisstische Kränkung
  • Wiedergutmachungs- oder Entschädigungswünsche aus dem Gefühl heraus, ungerecht behandelt worden zu sein
  • Andere Projektionen, die sich ausserhalb der Arbeitswelt befinden

Klassifikationssystem ICF

Unter der Leitung der WHO entstand eine internationale Klassifikation der Arbeitsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) [http://www3.who.int/icf/icftemplate.cfm], als Ergänzung der internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10), deren Ziel es ist, die Funktionsstörungen und die Behinderungen in Zusammenhang mit dem Gesundheitszustand zu beschreiben, im besonderen bei chronischen Leiden, unter Berücksichtigung des Zusammenhangs mit Umgebungs- und persönlichen Kontextfaktoren (Abbildung 1).

Das ICF beruht konkret auf einer dynamischen Beurteilung der folgenden vier Komponenten:

  • Krankheit: intrinsische Manifestation (z. B. degenerative, immunologische Störungen).
  • Schwäche: exteriorisierte Manifestation (z. B. Gewebedegeneration, eingeschränkte Bewegungsfähigkeit).
  • Unvermögen: objektive Auswirkungen (z. B. eingeschränkte Fähigkeit, die zur Verrichtung der Aktivitäten des täglichen Lebens und/oder des Berufslebens erforderlichen Tätigkeiten auszuführen).
  • Benachteiligungen: soziale Auswirkungen (z. B. Bezug ausschliesslich auf die eigene Person, sozialer Rückzug, Rückzug aus der Berufswelt).

Hinzu kommt die Berücksichtigung der Begleitumstände, die bei dem Versuch, die Probleme und Hindernisse auszumachen, mit denen sich der Patient konfrontiert sieht, allesamt eine Rolle spielen.

Folglich ist es Aufgabe des Arztes, die Art der Krankheit und die daraus resultierenden Schwächen objektiv zu bestimmen. Sofern er den Patienten und dessen berufliches und privates Umfeld gut kennt, wird er auch in der Lage sein, zu den Unzulänglichkeiten und Benachteiligungen Stellung zu nehmen. Dennoch reicht sein Blickfeld manchmal nicht aus, um sich ein wirklich gutes Bild von der Sachlage machen zu können, sodass es zur besseren Beurteilung der beiden letzteren Komponenten einer zusätzlichen sozio-professionellen Untersuchung bedarf.

Bessere Zusammenarbeit zwischen behandelnden Ärzten, Versicherern und Arbeitgebern

Es ist klar, dass behandelnder Arzt, Versicherer und Arbeitgeber den Patienten unterschiedlich wahrnehmen. Ohne angemessenen, loyalen und auf Vertrauen basierenden Austausch der Beteiligten wird es in komplizierten Fällen von AUF kaum zu einer befriedigenden Lösung kommen können.

Man muss zwangsläufig erkennen, dass das Arztzeugnis manchmal zu wenig ausführlich ist, um eine länger dauernde AUF zu rechtfertigen. Da ist es für den Versicherungsarzt wichtig, so früh wie möglich die nötigen Angaben zu erhalten, um die Berechtigung für eine AUF erkennen zu können. Dies wird es ihm auch ermöglichen, geeignete Massnahmen , seien diese in therapeutischer, beruflicher oder sogar sozialer Art, vorzuschlagen. Ein frühzeitiges Erkennen im Sinne von «Case Management», das den Beteiligten schnell und ganzheitlich die Situation des Patienten erkennen lässt, ist ausschlaggebend, um die Chancen einer Wiederaufnahme der Arbeit zu begünstigen. Damit vermeidet man, dass die Situation an einem Punkt angelangt, an dem es kein Zurück mehr gibt.

Praktische Modalitäten zur Überwachung länger andauernder AUF

Um komplexe Fälle frühzeitig zu erkennen und adäquat damit umzugehen, wird in einem "proaktiven" Sinn folgender Plan bei länger andauernder AUF empfohlen. Dieses Vorgehen sollte bei allen Erkrankungen auf identische Weise angewandt werden, da wir wissen, dass die betroffenen Personen den gleichen sozialen und versicherungstechnischen Gegebenheiten unterworfen sind.

  • Bei 2 Wochen dauernder AUF aus akuten Gründen oder bei einem Rezidiv sollte durch die Versicherung ein kurzes Arztzeugnis mit Angabe der Diagnose zuhanden des Versicherungsarztes verlangt werden.
  • Nach 1 Monat AUF soll durch die Versicherung oder evtl. durch den Arbeitgeber ein erster Bericht vom behandelnden Arzt verlangt werden, der die Diagnose/n und die Prognose für die Wiederaufnahme der Arbeit beinhaltet. Dieser Bericht soll helfen, das Risiko einer chronischen Entwicklung abzuschätzen, evtl. weitergehende diagnostische und therapeutische Massnahmen zu empfehlen und die spätere Überwachungsmodalität zu erstellen.
  • Nach 3 Monaten AUF muss eine genaue Bilanz der Situation gemacht werden, indem folgende Fragen beantwortet werden:
    • Gesundheitliche Beeinträchtigung/en und Risiko andauernder Restbeschwerden
    • Durchgeführte therapeutische Massnahmen und momentane Behandlung
    • Funktionelle Einschränkungen und deren Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit im angestammten Beruf
    • Ist bei der Erkrankung ein psychiatrischer Aspekt vorhanden?
    • Psychosoziale Stressfaktoren?
    • Verbleibende Arbeitsfähigkeit im aktuellen Beruf und Möglichkeit einer Umschulung aus medizinischer Sicht
    • Günstige oder ungünstige Kontextfaktoren

Die enge Zusammenarbeit zwischen behandelndem Arzt, Betriebsarzt und/oder dem Arbeitgeber ist unerlässlich, um die oben erwähnten Angaben zu erhalten und genauer beschreiben zu können.

Auch wird eine Untersuchung durch den Versicherungsarzt empfohlen, damit der Patient sich im Klaren ist, was seitens der Versicherung zu erwarten ist. Zu diesem Zeitpunkt entscheidet der Versicherungsarzt über allfällige weitergehende Untersuchungen, gegebenenfalls über ein Gutachten.

Falls sich schliesslich eine Wiederaufnahme der bisherigen Tätigkeit als unmöglich herausgestellt, ist es unerlässlich, den Patienten aufzufordern, sich bei der IV zwecks Umschulung anzumelden. Anders als bei der IV-Rente besteht bezüglich Umschulung durch die IV keine Karenzzeit, um an den beruflichen Wiedereingliederungsmassnahmen teilhaben zu können. Diese werden gewährt, sobald aus medizinischer Sicht eine Indikation dafür besteht.

Das ärztliche Gutachten

Unter einem Gutachten versteht man die Stellungnahme eines Experten oder einer Expertengruppe (multidisziplinäres Gutachten), die unabhängig sind und im Rahmen eines Auftrages einen schriftlichen Bericht verfassen, der Antworten auf Fragen aus dem Bereich der Versicherungsmedizin geben soll.

Das Gutachten verfolgt das Ziel, Art, Ätiologie und Schwere der Gesundheitsbeeinträchtigung des Versicherten zu bestimmen, eine Antwort auf deren Behandlung zu geben sowie eine prognostische Beurteilung abzugeben. Ferner kann es, je nach den besonderen Umständen des Auftrags und der Art der gestellten Fragen, beispielsweise darum gehen:

  • die Auswirkungen der Gesundheitsbeeinträchtigung auf die Arbeitsfähigkeit des Versicherten im Rahmen seiner letzten Tätigkeit und gegebenenfalls einer adaptierten Tätigkeit zu beurteilen,
  • Vorschläge für die Fortsetzung der Behandlung zu unterbreiten,
  • die Fundiertheit möglicher Massnahmen der beruflichen Rehabilitation zu beurteilen,
  • eine dauerhafte Schädigung unter dem Aspekt des Anspruchs auf eine Integritätsentschädigung oder auf eine Rente zu bemessen,
  • oder aber zu dem Begriff der natürlichen Kausalität Stellung zu nehmen.

Anforderungen an den Gutachter

Der Gutachter muss über eine abgeschlossene Fachausbildung verfügen. Umfangreiche Kenntnisse sowie praktische Erfahrung im Umgang mit versicherungsrechtlichen Fragestellungen und Begriffen sind unerlässlich. Ferner hat sich der Gutachter sowohl fachlich als auch im Bereich der Versicherungsmedizin kontinuierlich fortzubilden.

Die Qualität des Gutachters leitet sich aus seiner Fähigkeit ab, auf der Grundlage spezifischer Kenntnisse Beweise zu erbringen, aus seiner Berufserfahrung Nutzen zu ziehen und unter Einbeziehung seiner Kenntnisse und seiner spezifischen Erfahrung Entscheidungen zu treffen.

Die Voraussetzung der Unabhängigkeit beinhaltet die Unabhängigkeit gegenüber dem Versicherten selbst sowie gegenüber dem Auftraggeber (Versicherer, Gericht).

Qualitätsanforderungen bezüglich Form und Inhalt des Gutachtens

Das Gutachten umfasst mindestens die acht folgenden Punkte:

  • Einleitung: Datum der Beauftragung / Grund für das Gutachten
  • Zur Verfügung gestellte und zusammengetragene Dokumente
  • Anamnese
  • Fachkonsultationen
  • Diagnosen (gemäss Nomenklatur ICD-10, DSM-IV)
  • Beurteilung des Falls
  • Beantwortung der Fragen
  • Weitere Informationen

Qualitätsanforderungen bezüglich der Beweiskraft eines Gutachtens

Laut BGE ist, „entscheidend, ob der ärztliche Bericht bzw. das Gutachten hinreichend alle beteiligten Interessen berücksichtigt, ob diese auf vollständigen Untersuchungen beruhen, ob sie auf den Rekurs Bezug nehmen, ob diese unter Einbeziehung der zuvor gesammelten Erkenntnisse (Anamnese) erstellt wurden, ob die medizinischen Komponenten klar herausgearbeitet wurden und die vom Gutachter gezogenen Schlüsse den Anschein der Fundiertheit geben.“

Zusammengefasst setzt dies voraus, dass:

  • auf die Verwendung von juristischen Termini verzichtet werden soll. Es soll ferner klar zwischen den Aussagen des Versicherten und den Beobachtungen des Gutachters unterschieden werden. Der Gutachter hat sich dabei an den anerkannten Standards zu orientieren (Diagnosen gemäss Nomenklatur ICD-10 und DSM-IV)
  • der Verdacht der Simulation mit den zur Verfügung stehenden Methoden aufzuklären ist
  • die aus unterschiedlichen Quellen stammenden Informationen gesondert aufgeführt werden müssen
  • alle Beurteilungen begründet werden müssen
  • der Gutachter nicht versuchen soll, eine (vermeidbare) globale Sicht zu vermitteln, sondern vielmehr die einzelnen Elemente, aus denen sich seine Beurteilung zusammensetzt, so genau wie möglich sukzessiv zu analysieren.

Rechtsprechung

Zur AUF

Bemessung

BGE 114 V 281:

Als arbeitsunfähig gilt eine Person, die infolge eines Gesundheitsschadens ihre bisherige Tätigkeit nicht mehr, nur noch beschränkt oder nur unter der Gefahr, ihren Gesundheitszustand zu verschlimmern, ausüben kann. Der Grad der AUF wird laut Rechtsprechung nach dem Masse bestimmt, in welchem der Versicherte aus gesundheitlichen Gründen an seinem angestammten Arbeitsplatz zumutbarerweise nicht mehr nutzbringend tätig sein kann. Nicht massgebend ist dagegen die bloss medizinisch-theoretische Schätzung der AUF. Nach der Rechtsprechung ist der Grad der AUF unter Berücksichtigung des bisherigen Berufs festzusetzen, solange vom Versicherten vernünftigerweise nicht verlangt werden kann, seine restliche Arbeitsfähigkeit in einem andern Berufszweig zu verwerten. Der Versicherte, welcher seine restliche Arbeitsfähigkeit nicht verwertet, obgleich er hiezu unter Berücksichtigung der Arbeitsmarktlage und gegebenenfalls einer bestimmten Anpassungszeit in der Lage wäre, ist nach der beruflichen Tätigkeit zu beurteilen, die er bei gutem Willen ausüben könnte; das Fehlen des guten Willens ist nur dort entschuldbar, wo es auf einer Krankheit beruht.

Dem zur Schadenminderung durch Berufswechsel verpflichteten Versicherten ist praxisgemäss eine gewisse Übergangsfrist zur Stellensuche und zur Anpassung an die veränderten Verhältnisse einzuräumen. Eine Frist von drei bis fünf Monaten ist angemessen.

Bedeutung des Arztes (AUF-Zeugnis)

BGE 115 V 134

Um die Arbeitsfähigkeit einer versicherten Person zu beurteilen, ist die Verwaltung (und im Beschwerdefall das Gericht) auf Unterlagen angewiesen, die der Arzt und ggf. auch andere Fachleute zur Verfügung stellen. Aufgabe des Arztes ist es, den Gesundheitszustand der versicherten Person zu beurteilen und dazu Stellung zu nehmen, in welchem Umfang und bzgl. welcher Tätigkeiten die versicherte Person arbeitsunfähig ist. Die ärztlichen Auskünfte und Ergebnisse allfälliger weiterer Abklärungen sind zudem eine wichtige Grundlage zur Beurteilung der Frage, welche Arbeitsleistungen der versicherten Person noch zugemutet werden können.

Bei psychischen Leiden (inkl. somatoforme Schmerzstörungen u.ä.)

BGE 130 V 352 und BGE 131 V 49

Das Vorliegen eines fachärztlich ausgewiesenen psychischen Leidens mit Krankheitswert - worunter somatoforme Schmerzstörungen grundsätzlich fallen - ist aus rechtlicher Sicht wohl Voraussetzung, nicht aber hinreichende Basis für die Annahme einer invalidisierenden Einschränkung der Arbeitsfähigkeit. Namentlich vermag nach der Rechtsprechung eine diagnostizierte anhaltende somatoforme Schmerzstörung als solche in der Regel keine lang dauernde, zu einer Invalidität führende Einschränkung der Arbeitsfähigkeit im Sinne von Art. 4 Abs. 1, IVG, zu bewirken. Ein Abweichen von diesem Grundsatz fällt nur in jenen Fällen in Betracht, in denen die festgestellte somatoforme Schmerzstörung nach Einschätzung des Arztes eine derartige Schwere aufweist, dass der versicherten Person die Verwertung ihrer verbleibenden Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt bei objektiver Betrachtung - und unter Ausschluss von Einschränkungen der Leistungsfähigkeit, die auf aggravatorisches Verhalten zurückzuführen sind - sozial-praktisch nicht mehr zumutbar oder dies für die Gesellschaft gar untragbar ist. Die nur in Ausnahmefällen anzunehmende Unzumutbarkeit einer willentlichen Schmerzüberwindung und eines Wiedereinstiegs in den Arbeitsprozess setzt jedenfalls das Vorliegen einer mitwirkenden, psychisch ausgewiesenen Komorbidität von erheblicher Schwere, Intensität, Ausprägung und Dauer oder aber das Vorhandensein anderer qualifizierter, mit gewisser Intensität und Konstanz erfüllter Kriterien voraus. So sprechen unter Umständen (1) chronische körperliche Begleiterkrankungen und mehrjähriger Krankheitsverlauf bei unveränderter oder progredienter Symptomatik ohne längerfristige Remission, (2) ein ausgewiesener sozialer Rückzug in allen Belangen des Lebens, (3) ein verfestigter, therapeutisch nicht mehr angehbarer innerseelischer Verlauf einer an sich missglückten, psychisch aber entlastenden Konfliktbewältigung primärer Krankheitsgewinn ["Flucht in die Krankheit"] oder schliesslich (4) unbefriedigende Behandlungsergebnisse trotz konsequent durchgeführter ambulanter und/oder stationärer Behandlungsbemühungen (auch mit unterschiedlichem therapeutischem Ansatz) und gescheiterte Rehabilitationsmassnahmen bei vorhandener Motivation und Eigenanstrengung der versicherten Person für die ausnahmsweise Unüberwindlichkeit der somatoformen Schmerzstörung (BGE 130 V 352).

Es besteht eine Vermutung, dass die somatoforme Schmerzstörung (oder andere psychische Leiden, Anmerkung nur hier!) oder ihre Folgen mit einer zumutbaren Willensanstrengung überwindbar sind. Bestimmte Umstände, welche die Schmerzbewältigung intensiv und konstant behindern, können den Wiedereinstieg in den Arbeitsprozess unzumutbar machen, weil die versicherte Person alsdann nicht über die für den Umgang mit den Schmerzen notwendigen Ressourcen verfügt. Ob ein solcher Ausnahmefall vorliegt, entscheidet sich im Einzelfall anhand verschiedener Kriterien von BGE 130 V 352. Je mehr dieser Kriterien zutreffen und je ausgeprägter sich die entsprechenden Befunde darstellen, desto eher sind - ausnahmsweise - die Voraussetzungen für eine zumutbare Willensanstrengung zu verneinen.

Beruht die Leistungseinschränkung auf Aggravation oder einer ähnlichen Konstellation, liegt regelmässig keine versicherte Gesundheitsschädigung vor. Eine solche Ausgangslage ist etwa gegeben, wenn: eine erhebliche Diskrepanz zwischen den geschilderten Schmerzen und dem gezeigten Verhalten oder der Anamnese besteht; intensive Schmerzen angegeben werden, deren Charakterisierung jedoch vage bleibt; keine medizinische Behandlung und Therapie in Anspruch genommen wird; demonstrativ vorgetragene Klagen auf den Sachverständigen unglaubwürdig wirken; schwere Einschränkungen im Alltag behauptet werden, das psychosoziale Umfeld jedoch weitgehend intakt ist.

Zum Arztzeugnis/Arztbericht (insbesondere: Beweiswert)

BGE 125 V 351

Zu Gerichtsgutachten

Der Richter weicht bei Gerichtsgutachten nach der Praxis nicht ohne zwingende Gründe von der Einschätzung des medizinischen Experten ab, dessen Aufgabe es ist, seine Fachkenntnisse der Gerichtsbarkeit zur Verfügung zu stellen, um einen bestimmten Sachverhalt medizinisch zu erfassen. Ein Grund zum Abweichen kann vorliegen, wenn die Gerichtsexpertise widersprüchlich ist oder wenn ein vom Gericht eingeholtes Obergutachten in überzeugender Weise zu andern Schlussfolgerungen gelangt. Abweichende Beurteilung kann ferner gerechtfertigt sein, wenn gegensätzliche Meinungsäusserungen anderer Fachexperten dem Richter als triftig genug erscheinen, die Schlüssigkeit des Gerichtsgutachtens in Frage zu stellen, sei es, dass er die Überprüfung durch einen Oberexperten für angezeigt hält, sei es, dass er ohne Oberexpertise vom Ergebnis des Gerichtsgutachtens abweichende Schlussfolgerungen zieht.

Zu Parteigutachten

Den im Rahmen des Verwaltungsverfahrens durch die Suva und UVG-Privatversicherer eingeholten Gutachten von externen Fachärzten, welche auf Grund eingehender Beobachtungen und Untersuchungen sowie nach Einsicht in die Akten Bericht erstatten und bei der Erörterung der Befunde zu schlüssigen Ergebnissen gelangen, ist bei der Beweiswürdigung volle Beweiskraft zuzuerkennen, solange nicht konkrete Indizien gegen die Zuverlässigkeit der Expertise sprechen.

Zu Stellungnahmen des behandelnden Arztes

In Bezug auf Berichte von behandelnden Ärzten darf und soll der Richter der Erfahrungstatsache Rechnung tragen, dass diese mitunter im Hinblick auf ihre auftragsrechtliche Vertrauensstellung im Zweifelsfalle eher zu Gunsten ihrer Patienten aussagen.

Zu Stellungnahmen von Versicherungsärzten

Auch den Berichten und Gutachten von Versicherungsärzten kommt schliesslich Beweiswert zu, sofern sie als schlüssig erscheinen, nachvollziehbar begründet sowie in sich widerspruchsfrei sind und keine Indizien gegen ihre Zuverlässigkeit bestehen. Die Tatsache allein, dass der befragte Arzt in einem Anstellungsverhältnis zum Versicherungsträger steht, lässt nicht schon auf mangelnde Objektivität und auf Befangenheit schliessen. Es bedarf vielmehr besonderer Umstände, welche das Misstrauen in die Unparteilichkeit der Beurteilung objektiv als begründet erscheinen lassen.

Zum Gutachten (insbesondere: Verfahrensfragen, Art. 44 ATSG)

Umfang des Mitwirkungsrechtes der versicherten Person

BGE 133 V 446:

Es besteht kein Anspruch der versicherten Person auf eigene Fragen an den Gutachter.

BGE 132 V 93

Es besteht kein Anspruch der versicherten Person auf einen Gutachter ihrer Wahl.

Ausstandsgründe (Unterscheidung formelle / materielle Einwände)

BGE 132 V 93

Die gesetzlichen Ausstandsgründe (Art. 10 VwVG , Art. 36 Abs. 1 ATSG) zählen zu den Einwendungen formeller Natur, weil sie geeignet sind, Misstrauen in die Unparteilichkeit des Sachverständigen zu erwecken. Einwendungen materieller Natur können sich zwar ebenfalls gegen die Person des Gutachters richten. Sie beschlagen jedoch nicht dessen Unparteilichkeit. Oft sind sie von der Sorge getragen, das Gutachten könne mangelhaft ausfallen oder jedenfalls nicht im Sinne der zu begutachtenden Person. Solche Einwendungen sind in der Regel mit dem Entscheid in der Sache im Rahmen der Beweiswürdigung zu behandeln. So hat beispielsweise die Frage, aus welcher medizinischen Fachrichtung ein Gutachten einzuholen ist, nichts mit Ausstandsgründen, sondern mit der Beweiswürdigung zu tun. Dasselbe gilt mit Bezug auf den Einwand, der Sachverhalt sei bereits hinreichend abgeklärt oder das Leiden aufgrund der selbst ins Recht gelegten Gutachten erstellt. Es besteht kein Recht der versicherten Person auf einen Sachverständigen ihrer Wahl. Fehlende Sachkunde eines Gutachters bildet ebenfalls keinen Umstand, der Misstrauen in die Unparteilichkeit eines Gutachters wecken würde. Vielmehr ist bei der Würdigung des Gutachtens in Betracht zu ziehen, dass ein Gutachter nicht genügend sachkundig war.

Anmerkung der Red.: Bei formellen Einwänden muss daher der Versicherer eine Verfügung erlassen (z.B. über die Frage ob der Gutachter befangen ist oder nicht), während dem materielle Einwände (Bsp.: fehlende Sachkunde des Gutachters) die Begutachtung an und für sich nicht verhindern können, weil sie erst bei der Beurteilung des Gutachtens selber erhoben werden können.

Schweizerische Gesellschaft der Vertrauens- und Versicherungsärzte

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