Diese umfasst organspezifische Massnahmen von neurologischer, paraplegiologischer, neuroorthopädischer, pneumologischer, onkologischer, kardialer und muskulo-skelettaler Rehabilitation von der Geburt bis zum Alter von 18. Dabei stehen weniger Diagnosen als strukturelle und funktionelle Ausfälle, welche Aktivität und partizipative Fähigkeiten kompromittieren, im Vordergrund. Das ICF-Modell wurde für Kinder und Jugendliche adaptiert (ICF-CY) und stellt die Grundlage für die Indikationsstellung und Zielformulierung in der Rehabilitation dar.
Als Eigenheit der pädiatrischen Rehabilitation besteht immer die Notwendigkeit dem chronologischen Alter als auch dem Entwicklungsstand eines Kindes in der medizinischen Gesamtbeurteilung, der Hilfsmittelversorgung und der Durchführung von Therapiemassnahmen Rechnung zu tragen.
Die schulische Wiedereingliederung ist ein weiteres wichtiges Spezifikum, analog zur beruflichen Reintegration beim Erwachsenen. Schulische oder entwicklungsfördernde Sonder- und. heilpädagogische Massnahmen müssen in den stationären Rehabilitationskonzepten zwingend integriert sein. Die Abgeltung hierzu erfolgt aber über die Kantone bzw. Gemeinden und nicht zulasten der OKP.
Kinder haben Anrecht auf altersgerechte Rehabilitationsmassnahmen gemäss Charta für Kinder im Krankenhaus (basierend auf der UNO-Charta): Charta für Kinder im Krankenhaus (Link Widipedia). Der Einbezug der Eltern ist zwingend (Rooming-in, Elterngespräche/Instruktionen, Therapiebesuche, familienorientierte Rehabilitation).
Therapiesituationen müssen entsprechend dem chronologischen Alter und kognitiven Entwicklungsstand des Kindes oft in einer 1:1 Beziehung erfolgen.
Besonders anspruchsvoll ist die Rehabilitation in Kinderschutzsituationen (z.B. nach Schütteltrauma). Eine enge Zusammenarbeit mit der KESB ist zwingend. Kinderschutzsituationen können die Rehabilitationsdauer wesentlich beeinflussen.
Die psycho-somatische Rehabilitation bei Kindern und Jugendlichen z.B. mit dissoziativen Bewegungsstörungen stellt ein weiteres Spezifikum dar. Eine primär somatisch orientierte Rehabilitationsperiode ist oft die einzige Möglichkeit, sich dieser Problematik therapeutisch zu nähern. Es können in der stationären Rehabilitation oft gute Erfolge erzielt werden, da durch die Therapien den Patienten die Möglichkeit gegeben wird, die Symptome abzulegen, so dass weitere stationäre psychiatrische Aufenthalte verhindert werden können. Diese Aufnahmen erfolgen zwingend in enger Absprache mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie; eine Psychotherapie mit Einbezug des familiären Systems während des stationären Aufenthalts ist zwingend. Falls eine Verbesserung nicht primär erzielt werden kann, ist es das Ziel, eine weitere psychiatrische Behandlung vorzubereiten (z. B. Mobilität ausserhalb Rollstuhl erreichen). Es handelt sich naturgemäss oft um längere Hospitalisierungen.
Für eine erfolgreiche schulische und letztlich berufliche Integration von Kindern und Jugendlichen mit Hirnverletzungen ist eine Nachsorge mit regelmässigen ärztlich-neuropsychologischen Standortbestimmungen im Nachgang zur Erstrehabilitation von grösster Bedeutung. Es erfolgt hier auch eine Beratung der Lehrpersonen und schulpsychologischen Dienste, welche diese Kinder in den Schulgemeinden betreuen.
In den letzten Jahren haben sich standardisierte Skalen zur Einteilung der grobmotorischen Entwicklung, des Handgebrauchs, der Kommunikationsfähigkeit und der Ernährungssituation insbesondere für Kinder mit CP etabliert. Sie ermöglichen eine differenziertere Beschreibung funktioneller Schwierigkeiten und helfen, Therapiemodalitäten entsprechend dem Kindesalter zu indizieren (Lit. GMFCS) und zielgerichtet zu planen (Lit. Aurich-Schuler)
Stufe | GMFCS | MACS | CFCS | EDACS |
I | Geht ohne Einschränkungen | Kann ohne wesentliche Schwierigkeiten mit Objekten umgehen | Wirksamer Sender und Empfänger mit unvertrauten und vertrauten Partnern | Isst und trinkt sicher und effizient |
II | Geht mit Einschränkungen | Kann mit den meisten Objekten umgehen aber mit reduzierter Qualität und/oder Geschwindigkeit der Durchführung | Wirksamer, aber langsamer Sender und/oder Empfänger mit unvertrauten und/oder vertrauten Partnern | Isst und trinkt sicher aber mit gewissen Einschränkungen in der Effizienz |
III | Geht mit Benutzung einer Gehhilfe | Benutzt Objekte mit Schwierigkeiten; braucht Hilfe bei der Vorbereitung und/oder Modifizierung der Aktivitäten | Wirksamer Sender- und Empfänger mit vertrauten Partnern | Isst und trinkt mit gewissen Einschränkungen in der Sicherheit, ggf. Einschränkungen in der Effizienz |
IV | Selbständige Fortbewegung eingeschränkt, es kann ein E-Rollstuhl benutzt werden | Benutzt eine begrenzte Auswahl von leicht zu handhabenden Objekten in an die Fähigkeit angepassten Ausgangsituationen | Gelegentlich wirksamer Sender und/oder Empfänger mit vertrauten Partnern | Isst und trinkt mit signifikanten Einschränkungen in der Sicherheit |
V | Wird in einem Rollstuhl gefahren | Kein Gebrauch von Objekten möglich und deutliche Einschränkung in der Fähigkeit, auch einfache Handlungen durchzuführen | Selten wirksamer Sender und Empfänger auch mit vertrauten Partnern | Kann nicht sicher essen oder trinken, ggf. Gastrostomie zur Ernährung erwägen |
GMFCS: Gross Motor Function Classification System; MACS: Manual Ability Classification System; CFCS: Communication Function Classification System, EDACS: Eating and Drinking Ability Classification Scale
Eine stationäre Erstrehabilitation, z. B. nach Schlaganfall oder Schädelhirntrauma, dauert oft mehrere Monate bis zu einem Jahr. Eine Dauer von lediglich 3-4 Wochen reicht nach akuten Läsionen meist nicht zum Erreichen einer relevanten Funktionsverbesserung und Reintegration ins familiäre- und schulische Umfeld.
Die Prognosestellung betreffend Fortschritten und Outcome benötigt - insbesondere bei Patienten mit stark reduzierten Bewusstseinszuständen – oft eine mehrwöchige bis mehrmonatige Zeitspanne. Ist mit grosser Wahrscheinlichkeit mit einer chronischen Behinderung zu rechnen, müssen die Rehabilitationsziele entsprechend angepasst, Hilfsmittel organisiert und das therapeutische, familiäre- und schulische Setting aufgebaut werden. Auch die Anpassung der Kontextfaktoren gehört gemäss ICF-Konzept zu rehabilitativen Massnahmen.
Sinnvoll sind hier initial 8 Wochen mit einer Rückmeldung über die Fortschritte an den Kostenträger bei Halbzeit. Verlängerungen für 1 bis 3 Monate sollen in der Folge bewilligt werden, solange die obligaten Verlaufsratings (siehe unten) Fortschritte belegen und relevante Ziele formuliert werden.
Bei Kindern ist eine „chronische“ Phase aufgrund der verschiedenen Wachstums- und Entwicklungsperioden und des sich entwickelnden Gehirnes anders zu beurteilen als bei Erwachsenen. Ein erneuter stationärer Aufenthalt (Re-Rehabilitation) ist für folgende Situationen indiziert:
Angebot in speziellen Tageskliniken ist in der Schweiz noch stark limitiert. Sie ist indiziert als Fortsetzung der stationären Neurorehabilitation bei weiterbestehenden relevanten behandlungsfähigen Störungen.
Inzwischen bieten Kinderrehabilitationseinrichtungen saisonal (z. B. während den Schulferien) sogenannte Hemi-Intensiv-Wochen zur Verbesserung der Handfunktion an, da dafür eine gute Evidenzlage für Funktionsverbesserungen besteht. Die Kinder absolvieren tagsüber ein Rehabilitationsprogramm und schlafen zuhause. Diese Angebote (eher für funktionell bessere Kinder) beinhalten Elemente von Constrained Induced Movement Therapy (CIMT), bimanuelles Training (wie z.B. HABIT) und Umsetzungsanleitung für den Alltag. Voraussetzung für solche Therapieprogramme sind vorgängige ärztlich-therapeutische Assessments.
Ob ein Kind in einem ambulanten Setting mit limitierten Therapiefrequenzen oder stationär behandelt werden soll, hängt in erster Linie von der Schwere (Überwachungsnotwendigkeit) und Akuität der Störung ab. In der Regel kann in einem ambulanten Setting ein wöchentliches Programm mit max. 2x Physiotherapie, 1-2x Ergotherapie und 1-2 x Logopädie erreicht werden. Aspekte wie Reisezeit, Wohn- Schul- und Betreuungssituation für die Familien (Geschwister!) müssen in die Entscheidung einfliessen.
Es gibt praktisch keine Hirnläsionen ohne zumindest partielle Störungen der kognitiven Funktionen. Deshalb sind bei diesen Patienten neuropsychologische Assessments und insbesondere bei jüngeren Kindern auch entwicklungspädiatrische Untersuchungen durchzuführen.
Die gestörten Funktionen können durch etablierte Messinstrumente wie z. B. weeFIM = Kinderversion-FIM (functional independence measurement) erfasst und quantifiziert werden (Barthel-Index bisher für Kinder nicht validiert). Die Resultate dieser Messungen (zumindest alle paar Wochen) können eine Hilfe für die Entscheidung sein, wie lange eine stationäre Neurorehabilitation weitergeführt oder allenfalls ein Wechsel in ein ambulantes Programm umzusetzen ist. Allerdings genügt eine weeFIM-Zahl bei Kindern, welche aufgrund ihrer altersbedingten Unselbständigkeit per se auf Pflege/Hilfe und Supervision angewiesen sind, nicht als alleinige Entscheidungsgrundlage. So wird sich ein Kind mit einer schweren CP (GMFCS 4-5, MACS 4-5) im weeFIM-Wert (meist minimaler Wert von 18) nach einer Hüftrekonstruktion nicht verbessern können, und trotzdem bedarf es der stationären Rehabilitation, bis die schmerzfreie Sitzfähigkeit während einer genügend langen Zeitspanne erreicht ist.
Eine Abklärung der visuellen Funktionen ist im Frühstadium durch eine neuroophthalmologisch geschulte Fachperson (Low Vision/ev. Neuro-Ophthalmologie) vorzunehmen, da Störungen in diesem Bereich gemäss neueren Studien mehrheitlich übersehen werden, die Selbständigkeit und Leistungsfähigkeit jedoch entscheidend beeinträchtigen. Viele der entsprechend gestörten visuellen Funktionen können durch adäquate Therapie (low vision Therapie) verbessert werden.
Querschnittslähmungen gehören in eine spezialisiert Rehabilitationsklinik, die neben den pädiatrischen Fachspezifika auch die Kompetenz zur Behandlung von urologischen Komplikationen aufweist. Das Erlernen des Katheterisierens („clean intermittent catherization“/CIC) und des Stuhlmanagements zum Erreichen einer Kontinenz sind wichtige Indikationen für eine stationäre Rehabilitation.
Schwer hirnverletzte Kinder im «minimal conscious state» (Syndrom minimalen Bewusstseins) oder im «unresponsive wakefulness syndrome» (Syndrom reaktionsloser Wachheit) sollen in einer spezialisierten pädiatrischen Neurorehabilitations-Einheit behandelt werden.
Kinder mit psychogenen Lähmungen benötigen ein Programm mit kombinierter somatischer (Physiotherapie, Ergotherapie, Rehabilitationspflege) und psychotherapeutischer Behandlung mit enger Koordination beider Therapiezweige.
Kinder mit erheblichen organischen Hirnläsionen, bei denen die Persönlichkeitsveränderungen einen limitierenden Faktor bilden, werden in aller Regel in der pädiatrischen Neurorehabilitation behandelt.
Dem Autor dieses Abschnittes sind keine Fälle von sogenannter „Scheininvalidität“ von Kindern und Jugendlichen bekannt. Kinder möchten primär bei ihren Familien leben und nicht in einer Rehabilitationsklinik. Zuweisungen zur stationären Rehabilitation erfolgen durch die zuweisenden Spezialisten in Absprache mit den Eltern, auch in sorgfältiger Abwägung der Vor- und Nachtteile bzw. des Aufwandes für die Familie.
Aurich-Schuler T, Warken B, Graser JV, Ulrich T, Borggraefe I, Heinen F, Meyer-Heim A, van Hedel HJ, Schroeder AS. Practical Recommendations for Robot-Assisted Treadmill Therapy (Lokomat) in Children with Cerebral Palsy: Indications, Goal Setting, and Clinical Implementation within the WHO-ICF Framework. Neuropediatrics. 2015;46:248-60.
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Update Neurorehabilitation 2016, Th. Platz (Herausgeber), Hippocampus Verlag
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Januar 2018 / PD Dr. med. Andreas Meyer-Heim
Schweizerische Gesellschaft der Vertrauens- und Versicherungsärzte
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